Hethitische Schreibkunst

Die Schrift kam Anfang des zweiten Jahrtausends in Anatolien in Form tausender und abertausender von Keilschrifttexten – meistens Briefe und Ausgabenerklärungen – an, die die assyrischen Kaufleute aus ihrer Heimatstadt Assur empfingen oder von den anatolischen Handelsniederlassungen aus absandten (Abb.1). Dies reichte jedoch nicht aus, um bei den einheimischen Bevölkerungen hethitischer, luwischer und hattischer Sprache eine eigene Schreibtradition entstehen zu lassen.

Abb.1: Ein Tontafelfragment aus dem „Karum Ḫattuša” (KBo 28.179), das die typische altassyrische Schrift aufweist.

Obwohl assyrische Kaufleute sich bisweilen mit den Einheimischen vermischten und einige von diesen ohne Zweifel schreiben konnten, begnügten sich die anatolischen Fürstentümer damit, für ihre begrenzten Verwaltungsbedürfnisse ein beschränktes Inventar piktographischer Symbole zu verwenden, die uns vor allem aus zeitgenossischen Siegeln bekannt sind.

Abb.2: Plan der hethitischen Hauptstadt Ḫattuša, mit Markierung des „Großen Tempels” (Nr. 5), des „Hauses am Hang” (Nr. 6), und des Palastkomplexes von Büyükkale (Nr. 33).

Katalysator für die Geburt des hethitischen Schrifttums dagegen waren praktische und ideologische Anforderungen, die durch die wachsende Komplexität des Staates entstanden. Erste Schritte zur Verwendung der Schrift für Belange des eigenen Staates wurden von Anitta, Prinz von Kaniš/Neša und Gründer einer kurzlebigen Regionalmacht in der Mitte des 18. Jh., unternommen: In einer aus späteren Abschriften bekannten Proklamation beschließt er, dass der Text auf einer „Tafel” schriftlich festgehalten und an „[s]einem Tor” angebracht werden solle. In welcher Sprache und Schrift dieser Text ursprünglich verfasst war, bleibt allerdings unklar. Anittas Fürstentum war jedoch nicht von langer Dauer, und als gegen Ende des 18. Jahrhunderts das assyrische Handelsnetz zusammenbrach, verschwand die Keilschrift aus Anatolien zusammen mit den assyrischen Kaufleuten, die sie dorthin gebracht hatten. Die hethitische Schreibtradition enstand erst ca. ein Jahrhudert später unter Ḫattušili I., dem Begründer des hethitischen Reiches. Während seiner syrischen Feldzüge muss Ḫattušili, wahrscheinlich aus Alalach, vielleicht aber auch aus anderen Städten, Schreiber mit sich nach Ḫattuša gebracht haben, was die ersten Anfänge einer Kanzlei darstellen könnte, worin heimische Schreiber in der Keilschriftkunst unterrichtet worden sein könnten. Tatsächlich ist die Grundlage der hethitischen Schreibtradition ein Zeicheninventar, das gar nicht auf dem der assyrischen Kaufmänner basiert, sondern auf im zeitgenossischen Syrien verwendeten Zeichenformen. Schon in diesen frühesten Texten zeigen Ḫattušili und seine Schreiber, dass sie die Möglichkeiten, die ihnen die Schrift bietet, anspruchvoll zu nutzen verstehen: sie wird genutzt um drängende wie drohende Briefe und Befehle an Verbündete und Feldherren zu schicken, um die Taten Ḫattušilis in Annalen und Inschriften zu verewigen, und schließlich auch, um seinen letzten Willen sogar nach dem Tod den jugen Erben erreichen zu lassen – und uns, die nach mehr als 3500 Jahren im sogenannten „Testament des Ḫattušili” noch lesen können: „Meine Worte habe ich dir gegeben, und diese Tafel soll man dir stets Monat für Monat vorlesen; so wirst du dir meine Worte und meine Weisheit immer wieder ins Herz prägen...”. In der Tat ist es wahrscheinlich, dass in diesem frühen Stadium und bis ins 16. Jahrhundert hinein alle Texte in der Muttersprache dieser ersten Gelehrten, dem Akkadischen, geschrieben wurden. Spätestens zur Regierungszeit Telipinus begannen jedoch die Schriftgelehrten das syrisch-akkadische Syllabar zur Schreibung des Hethitischen und dann auch anderer Sprachen zu verwenden, und in die Regierungszeit Tutḫaliyas I./II. fällt schließlich die Organisation einer Kanzlei, die den Vergleich mit denen der anderen Großmächte der Zeit nicht zu scheuen brauchte: Viele Textgattungen, wie z.B. die sogenannten „Instruktionen”, erhielten in dieser Zeit ihr endgültiges Aussehen. Wie jede lebendige Schreibtradition veränderte sich auch die hethitische im Laufe der Zeit, so dass das Studium der Paläographie, insbesondere der Entwicklung von Zeichenformen, von entscheidender Bedeutung für die Datierung der Quellen ist.

Abb.3: Handschriften und Textgattungen im Vergleich: die eleganten Zeichen von KUB 29.58+, einer „Bibliothekstafel” mit akkadischen Medizintexten, stehen der kursiven Schrift des Kultinventars KBo 2.7 gegenüber.

In der Hauptstadt Ḫattuša wurde an mehreren Orten geschrieben: Ein wichtiges Schreibzentrum stellte der sogenannte Große Tempel dar, wo riesige Menge von Waren und Tributen ankamen und sortiert wurden; Schreibateliers gab es aber auch in dem sogenannten Haus am Hang, das im Laufe der Zeit auch die Funktion einer Art Katasteramt übernahm, und im Komplex des Königspalastes auf der Burg (Büyükkale), wo u.a. gelehrte Literatursammlungen beherbergt waren (Abb. 2). Geschrieben wurde aber natürlich auch in den kleinen und großen Städten des Reiches und überall, wo König und Würdenträger Schreiber mit sich brachten, die jene unaufhörlich inner- und außerhalb des Reiches fließenden Briefe und Berichte anfertigen konnten. Wie einige von ihnen an verschiedenen Orten angefertigte Tafeln bestätigen, stellten manche dieser Schreiber quasi „persönliche Sekretäre” des Königs dar, die ihn während dessen Reisen folgten. Vergleicht man das Erscheinungsbild – Zeichenformen und mise en page – der Tafeln aus Ḫattuša, die den überwiegenden Großteil des heute bekannten Materials stellen, mit denen aus anderen Städten des Reiches, springt der stark einheitliche Charakter der hethitischen Schreibtradition ins Auge: regionale Varianten scheinen sich bisher nicht identifizieren zu lassen.

Abb.4: Schematische Darstellung einer Tontafel mit der üblichen plano-convexen Form.

Über die Schreiber, und darüber, wie und in wievielen Ateliers die Arbeit organisiert war, wissen wir wenig. Hauptquelle dafür sind die Kolophone der Tafeln, in denen einige Schreiber, besonders der späteren Zeit, ihren Namen und ggf. zusätzliche Angaben, wie z.B. den Namen des Chef-Schreibers, der die Arbeit betreute, hinterließen. Mehr könnte man sicher aus indirekten Quellen gewinnen: Aus einer systematischen Untersuchung der Verteilung von Zeichenformen, der Handschriften, der chemikalischen Zusammensetzung des Tons, der Fundorte eine Untersuchung, die noch weitgehend ein Desideratum bleibt. Klar scheint heute, dass ein Wendepunkt nach der Eroberung des Mittani-Reiches durch Šuppiluliuma I. kam, als nunmehr in Ḫattuša arbeitende mittanische Schreiber und Gelehrte Formen und Gewohnheiten des sogenannten „Assyrisch-Mittanischen Duktus” in die hethitische Schreibtradition einbrachten.

Abb.5: Verschiedene Formate bei hethitischen Schriftdenkmälern: eine althethitische Landschenkungsurkunde (İK 174-66), ein mittelhethitischer Brief (HKM 3), ein pillenförmiger Orakelbericht (KBo 48.274), ein Lebermodell (KBo 7.7).

Obwohl uns einige Schreibernamen schon für die ältere Zeit bekannt sind, können nur für die letzte Phase des hethitischen Reiches die wichtigsten Schreiberfamilien und im weiteren Sinne die Organisation einiger Schreibateliers bis zu einem gewissen Grad rekonstruiert werden. So wissen wir u.a. dass die Weitergabe der Schreibkunst vor allem innerhalb der Familie von Vater zu Sohn erfolgte, und dass unter den späteren Großkönigen Ḫattušili III. und Tutḫaliya IV. eine umfangreiche Neuedition wichtiger Ritualtexte zwei von einem Walwaziti und einem Anuwanza angeleiteten Gruppen von Schreibern anvertraut wurde. Alle diese Schreiber stellten auf eine Weise Eliteschreiber dar, denen die Pflege und Tradierung jener Texte, die im Lauf der Zeit immer wieder neu kopiert wurden, anvertraut war Leo Oppenheims stream of tradition – darunter vor allem die „Festrituale”, die Hinweise zur richtigen Durchführung der Riten enthielten und damit von primärer Bedeutung für den Erhalt des kosmischen Gleichgewichtes und des Heils des Landes waren. Die Handschrift dieser Tafeln ist in der Regel elegant und gepflegt, der verwendete Ton von feinster Qualität, und bisweilen stellten Schreiber ihre Gelehrtsamkeit durch die Einfügung gekünstelter, archaisierender Zeichenformen in den Kolophonen unter Beweis. Es gab aber auch kurzlebige Texte, die verworfen wurden, sobald sie nicht mehr nützlich oder ihr Inhalt nicht mehr gültig war. Derartige Tafeln, oft aus gröberem Ton, weisen in der Regel eine kursive und weniger gepflegte Handschrift auf, manchmal mit vereinfachten Zeichenvarianten, die ihre ephemere Natur verraten (Abb. 3). Hier setzen die Schreiber weder Unterschrift noch archäisierende Zeichen in die Kolophone, und obwohl es kaum zu bezweifeln ist, dass eine große Zahl auf das Erstellen solcher Texte spezialisierter Schreiber existierte, sind ihre Namen für uns verloren.

Abb.6: Detail aus den Tafeln KBo 32.109 (links) und KUB 28.7 (rechts), mit Markierung von Pinselstrichen, Kolumnentrenner und Randleiste.

Etwas besser als über die Schreiber wissen wir über die Schreibtechniken Bescheid, weil uns die Tafeln selbst hier Auskunft geben: Der feuchte Ton wurde zuerst von kleinen Steinen und sonstigen Verunreinigungen gesäubert und sodann in die richtige Form gebracht: Briefe, meist einkolumnig, schrieb man auf kleinere, andere Texte, die in ein Archiv oder in eine Bibliothek gelangen sollten, auf größere Tontafeln. Letztere, in der Regel zwei- oder dreikolumnig, weisen eine charakteristische plankonvexe Form auf, wodurch die Festigkeit erhöht und gleichzeitig vermieden wurde, dass die aus der flachen Vorderseite schon geschriebenen Zeilen während des Schreibens auf der gekrümmten Rückseite beschädigt würden (Abb. 4). Desweiteren waren Sonderformen in Gebrauch, wie die kissenförmigen Landschenkungsurkunden, die für kurze Orakelberichte verwendeten „Pillen”, oder die aus der mesopotamischen Opferschaupraxis stammenden Lebermodelle (Abb. 5). Nach Erhalt der richtigen Form wurden die Tafeln zuerst mit einem feuchten Pinsel geglättet und dann mit durch Griffel, Stäbchen oder Schnüre erzeugten Kolumnentrennern versehen (Abb. 6). Die meisten Tafeln weisen auch die sogenannten Randleisten auf, eine Besonderheit der hethitischen Schreibtradition. Dann erst konnte begonnen werden, die Tafel zu beschreiben. Weitere Eigentümlichkeiten der hethitischen Schreibtradition sind die regelmäßige Trennung einzelner Textabschnitte durch Paragraphenstriche und die Herstellung der Griffel nicht wie in Mesopotamien üblich aus Schilfrohr, sondern aus anderen Materialien, vermutlich Knochen und Holz.

Abb.7: Ein Siegel Muwatallis II (BoHa 23 Kat. 40.1-9). Die Außenringe enthalten Titulatur, Genealogie und Schutzgottheiten des Königs in Keilschrift; das innere Feld stellt den König, umarmt von dem „Großen Gott des Himmels”, und die entsprechenden hieroglyphischen Legenden dar. Der hurritische Name Muwatallis wird hier durch die Schreibung SUPER.TEŠUB-pa „Šarri-Teššob” wiedergegeben, wobei das Zeichen SUPER (L.70) von seiner ursprünglichen hethitisch-luwischen Lesung sari „oben” ausgehend für die hurritische Lesung šarri als Rebus-Schreibung verwendet wird.

Es wurde jedoch nicht nur auf Ton geschrieben und auch nicht nur in Keilschrift. Urkunden von besonderer Bedeutung wurden auch auf Metall – Bronze oder Silber – kopiert und dann bisweilen in Tempeln unter den Schutz der Götter gestellt, die als Bürgen der Eide und Verträge galten. So auch die sogenannte „Bronzetafel”, die 1986 in Ḫattuša gefunden wurde und einen Vertrag zwischen Großkönig Tuthaliya IV. und Kurunta von Tarhuntassa enthält. Vor allem aber existierte eine zweite, zur keilschriftlichen parallele Schreibtradition: Die anatolische Hieroglyphenschrift. Wenn auch der Ursprung dieser Kursivschrift noch im Dunkeln liegt, muss sie doch irgendwann zwischen der altassyrischen Karum-Zeit und den Regierungszeiten der ersten hethitischen Könige in Anatolien unabhängig von den ägyptischen Hieroglyphen entwickelt worden sein. Sie funktioniert ähnlich wie die Keilschrift, wie diese bestehend aus Logogrammen, Determinativen und Silbenzeichen. Die Hieroglyphen enthalten eine starke ikonische Valenz, wodurch sich die Schrift für einen Einsatz in ikonographischem Kontext besonders eignete. So entstanden Denkmäler komplexerer Semantik, die dank der Interaktion zwischen Text, Ikonizität der Zeichen und ikonographischem Beiwerk einerseits ein breiteres Publikum als die Keilschrifttexte erreichen konnten, andererseits Information auf mehreren semantischen Ebenen trugen. Während die Keilschrift zur Aufzeichnung verschiedener Sprachen verwendet wurde – die „acht Sprachen des hethitischen Reiches” des bahnbrechenden Aufsatzes von E. Forrer –, war die Hieroglyphenschrift auf das Luwische, die damals am meistens gesprochene Sprache Anatoliens, begrenzt.

Abb.8: Links: Die Basis BOĞAZKÖY 1. Die ikonische Valenz der hieroglyphischen Zeichen wird hier soweit hervorgehoben, dass die Inschrift quasi als Bild „entziffert” werden kann („Diese Stele habe ich ... gestellt”). Rechts: Das linke Bildfeld aus der Felsinschrift von Fıraktın, in dem König Ḫattušili III. dem Wettergott libiert.

Es ist nicht überraschend, dass die Hieroglyphenschrift im Gegensatz zur Keilschrift den Zusammenbruch des hethitischen Reiches überlebte, und ihre Blütezeit während der späthethitischen Fürstentümer im eisenzeitlichen Süd- und Ostanatolien sowie Syrien hatte. Verwendet wurde sie auf verschiedenen Schriftträgern und zu verschiedenen Zwecken: Auf Siegellegenden, auch in Kombination mit der Keilschrift und in komplexeren Rebusschreibungen (Abb. 7), in Monumentalinschriften auf Basen, Stelen und Felswänden (Abb. 8), auf Bleiblättern und auf gewachsten Holztafeln. Auf die Existenz solcher Holztafeln weisen die zahlreichen Belege des Logogramms giš.ḫur „Holzbrett” hin, sowie weitere Termini, die sich auf Holztafeln mit eingewachstem Schreibfeld beziehen. Auf solchen Tafeln konnte in Keilschrift sowie in Hieroglyphen geschrieben werden. Während die Keilschriftzeichen mit einem kantigen Griffel eingedrückt wurden, mussten die Hieroglyphen mit einem spitzigen Griffel im weiches Wachs eingeritzt werden und ein Dutzend Griffel dieser Art aus Bronze, sind tatsächlich auch – vor allem in Ḫattuša – gefunden worden (Abb. 9). Das spachtelformige hintere Ende dieser Griffel wurde offensichtlich wie bei den wohlbekannten griechisch-römischen Griffeln der tabulae ceratae verwendet, um Zeichen zu radieren. Auf einigen Steinblöcken aus der Unterstadt von Ḫattuša sind zudem Reste gestanzter hieroglyphischer Inschriften mit Schreibernamen erhalten. Einer interessanten Interpretation zufolge kennzeichneten sie die Arbeitstätte von Schreibern, die Briefe und Urkunden für „Privatkunden” gegen Gebühr aufschrieben – in einer gewissen Weise die Vorväter jener Schreiber, welche bis heute in vielen Länder auf Plätzen und vor dem Eingang von Behörden zu finden sind.

Abb.9: Bronzegriffel aus Ḫattuša.

© Michele Cammarosano