Die Wiederentdeckung der Hethiter

Die Babylonier, Assyrer und Ägypter waren nie gänzlich in Vergessenheit geraten, da die Bibel und antike Schriftsteller Namen und Ereignisse dieser altorientalischen Kulturvölker bewahrten. Dies war anders bei den Hethitern: Sie waren schon den Griechen der Zeit Herodots nicht  mehr bekannt, und ihre sichtbaren Monumente wurden anderen Kulturen zugeschrieben.

Der „Vater der Geschichte“ Herodot

Alles, was wir heute über die Geschichte und Kultur der Hethiter wissen, ist der Forschung in den letzten zwei Jahrhunderten zu verdanken.

Das Relief vom Karabel

Der griechische Geschichtsschreiber Herodot, traditionell nach Cicero als der pater historiae, der „Vater der Geschichte“ bekannt, erzählt im 2. Buch seines Geschichtswerks von den Sitten und Gebräuchen der Ägypter und den Taten ihrer Herrscher. Dabei spielt eine herausragende Rolle der König Sesostris, der, wie wir heute wissen, der XII. Dynastie angehörte und ins 19. Jh. v.Chr. datiert werden kann. Dieser König habe, so Herodot, ausgedehnte Eroberungen unternommen und dabei in fernen Ländern Siegesmonumente hinterlassen, darunter auch ein solches in Westkleinasien an der Straße von Sardes nach Smyrna, dem heutigen Izmir. Herodot beschriebt das Relief folgendermaßen:

ἑκατέρωθι δὲ ἀνὴρ ἐγγέγλυπται μέγαθος πέμπτης σπιθαμῆς, τῇ μὲν δεξιῇ χειρὶ ἔχων αἰχμὴν τῇ δὲ ἀριστερῇ τόξα, καὶ τὴν ἄλλην σκευὴν ὡσαύτως: καὶ γὰρ Αἰγυπτίην καὶ Αἰθιοπίδα ἔχει: ἐκ δὲ τοῦ ὤμου ἐς τὸν ἕτερον ὦμον διὰ τῶν στηθέων γράμματα ἱρὰ Αἰγύπτια διήκει ἐγκεκολαμμένα, λέγοντα τάδε: ‘ἐγὼ τήνδε τὴν χώρην ὤμοισι τοῖσι ἐμοῖσι ἐκτησάμην.

“... ein männliches Reliefbild von viereinhalb Ellen Höhe. In der rechten hält es die Lanze, in der Linken einen Bogen, und dem entspricht die übrige Rüstung, die ägyptisch und äthiopisch ist. auf der Brust, von der einen Schulter zur andren, ist eine Inschrift in den heiligen Buchstaben der Ägypter eingehauen, die besagt: ‘Dieses haben meine Schultern erobert.’”

(Herodot, Historien II 106)

Das Relief, das Herodot beschreibt, existiert noch heute, es wurde 1839 von Forschungsreisenden entdeckt und noch im selben Jahr der Wissenschaft bekanntgegeben.

Das Relief am Karabel. Rechts: Das Relief in einer Abbildung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Bezeichnung nach Herodot.

 Die Inschrift ist allerdings nicht in ägyptischen, sondern in hethitischen Hieroglyphen geschrieben, und ihre Lesung gelang erst vor wenigen Jahren.

Das „Tarkondemos-Siegel“

1998 publizierte der englische Hethitologe und Spezialist für hethitische Hieroglyphen, David Hawkins, in der Zeitschrift Anatolian Studies seine Lesung der Inschrift, aus der sich ergab, dass das Relief ebenso wie ein schon seit dem 19. Jh. bekanntes beschriftetes Silbersiegel, das fälschlich einem antiken Herrscher namens Tarkondemos zugeschrieben wurde,  auf einen König des westanatolischen Landes Mira namens Tarkasnawa zurückgeht.

Das sogenannte „Tarkondemos-Siegel

Der Fall zeigt, dass die Geschichte und Kultur der Hethiter schon im Altertum in Vergessenheit geraten war. Als das Reich der hethitischen Großkönige kurz nach 1200 v.Chr. zusammenbrach und ihre Hauptstadt Hattuša verlassen und schließlich zerstört wurde, verschwand auch alle Erinnerung daran.

Wenn wir überhaupt einiges über diese vergangene Welt wissen, ist dies ausschließlich den jahrzehntelangen Arbeiten von Archäologen und Philologen zu verdanken.

Die Erforschung Altanatoliens steht im Zusammenhang der Erforschung der vorgriechischen Kulturen Vorderasiens und Ägyptens, welche im Laufe des 19. Jahrhunderts das Geschichts­bild des Altertums revolutioniert hat. Alles, was man bis dahin über Altvorderasien und Altägypten wusste oder zu wissen meinte, ging auf zwei Quellencorpora zurück, nämlich die 'klassische', also die griechisch-lateinische, und die biblische Überlieferung.

Über Assyrer, Babylonier und Ägypter lieferten diese Quellen immerhin zahlreiche Informationen, die insbesondere für das 1. Jahrtausend vor Chr.sogar recht umfangreich und detailliert sind. Für das hethitische Großreich des 2. Jahrtausends sieht dies anders aus. Die Griechen wussten, wie Herodots Zuschreibung des Karabel-Reliefs an einen ägyptischen Pharao zeigt, nichts mehr von den Hethitern.

Die Ḥittîm der Bibel

Allerdings kennt das Alte Testament das Volk der Ḥittîm, deren Namen Martin Luther als Hethiter übersetzte. Im Alten Testament werden Hethiter neben anderen Stämmen wie Amoritern und Kanaanitern genannt, die die Israeliten bei ihrer Einwanderung ins Gelobte Land vorfanden. Nach Genesis 23 kaufte Abraham eine Höhle bei Hebron als Begräbnisplatz von einem Hethiter, und Esau heiratete nach Genesis 26 zwei Hethiterinnen.

וַיִּשְׁלַח דָּוִד, וַיִּדְרֹשׁ לָאִשָּׁה; וַיֹּאמֶר, הֲלוֹא-זֹאת בַּת-שֶׁבַע בַּת-אֱלִיעָם--אֵשֶׁת, אוּרִיָּה הַחִתִּי.

וַיִּשְׁלַח דָּוִד מַלְאָכִים וַיִּקָּחֶהָ, וַתָּבוֹא אֵלָיו וַיִּשְׁכַּב עִמָּה.

...

וַיְהִי בַבֹּקֶר, וַיִּכְתֹּב דָּוִד סֵפֶר אֶל-יוֹאָב; וַיִּשְׁלַח, בְּיַד אוּרִיָּה.

וַיִּכְתֹּב בַּסֵּפֶר, לֵאמֹר: הָבוּ אֶת-אוּרִיָּה, אֶל-מוּל פְּנֵי הַמִּלְחָמָה הַחֲזָקָה, וְשַׁבְתֶּם מֵאַחֲרָיו, וְנִכָּה וָמֵת.

(3) Und David sandte hin und ließ nach der Frau fragen und man sagte: Das ist doch Batseba, die Tochter Eliams, die Frau Urias, des Hethiters.

(4) Und David sandte Boten hin und ließ sie holen. Und als sie zu ihm kam, wohnte er ihr bei; ...

(14) Am andern Morgen schrieb David einen Brief an Joab und sandte ihn durch Uria.

(15) Er schrieb aber in dem Brief: Stellt Uria vornehin, wo der Kampf am härtesten ist, und zieht euch hinter ihm zurück, dass er erschlagen werde und sterbe.

Auch Uria, Gemahl der Bathseba und Empfänger eines sprichwörtlich gewordenen Briefes König Davids, wird als Hethiter bezeichnet. Aber trotz der biblischen Hethiter-Stellen hatten auch die Israeliten des 1. vorchristlichen Jahrtausends wohl keine Erinnerung an das anatolische Großreich der Hethiter, ebenso wenig übrigens wie ihre Zeitgenossen in Assyrien und Babylonien.

Ägyptische Erwähnungen eines Landes „Cheta“

Die ägyptische Übersetzung des hethitisch-ägyptischen Friedensvertrags auf Steinblöcken in Karnak

1822 entzifferte François Champollion die ägyptischen Hieroglyphen. Zu den Texten, die schon bald danach studiert wurden, gehört eine hieroglyphische Inschrift auf  Steinblöcken des Tempels von Karnak, bei der es sich um die ägyptische Fassung eines Vertrages zwischen dem Pharao Ramses II. (reg. 1279-1213 v.Chr.) und Hattušili, dem „Großfürsten von Cheta“ handelt. Auch andere, zum Teil noch ältere Texte erwähnten dieses Land Cheta.  

Das Tiglatpileser-Prisma

Achtseitiges Tonprisma aus Assur mit dem Tatenbericht Tiglatpilesers I. (um 1100 v.Chr.), in dem Hatti erwähnt wird.

Über die Lage von Cheta erhielt die Wissenschaft Kenntnis, nachdem Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts die babylonisch-assyrische Keilschrift hinreichend entziffert war, um eine assyrische Inschrift der Zeit um 1100 v.Chr. zumindest in groben Zügen zu verstehen. Hier war von einem Feldzug des Königs Tiglatpileser gegen das Land Ḫatti die Rede, und da dessen Hauptstadt das aus der Bibel bekannte, in Nordsyrien am Euphrat gelegene Karkemiš war, schien es klar zu sein, dass Cheta oder Ḫatti dort zu suchen war.  

Die „Hama-Steine“

Bereits 1812 hatte der Schweizer Forschungsreisende Johann Ludwig Burkhardt in der mittelsyrischen Stadt Hama Steine gesehen und beschrieben, die mit hieroglyphischen Zeichen beschrieben waren, die aber ganz anders aussahen als die ägyptischen Hieroglyphen. Zu diesen sog. „Hama-Steinen“ kamen seit 1870 einige weitere.

Der Schweizer Johann Ludwig Burkhardt („Scheich Ibrahim“), der als erster Europäer Mekka besuchte.

Auf Initiative eines in Damaskus lebenden britischen Missionars ließ der osmanische Gouverneur von Syrien die Originale in das Archäologische Museum in Istanbul bringen, wo sie sich heute noch befinden. Zuvor aber wurden Abgüsse hergestellt, die nach England geschickt wurden und damit rasch der Forschung zur Verfügung standen.

10 a-b: Zwei „Hama-Steine“: Nach heutiger Kenntnis handelt es sich bei den „Hama-Steinen“ um Inschriften von Königen des Stadtstaates Hamath aus dem 9. Jh. v.Chr. (Urchilina und sein Sohn und Nachfolger Uratamis).

Archibald Henry Sayce (1845-1933)

Einige Jahre später, 1876, stellte der englische Gelehrte Archibald Henry Sayce einen Zusammenhang zwischen  den „Hama-Steinen“ und dem Land Cheta-Hatti her, wodurch die Lokalisierung dieses Landes in Syrien bestätigt zu werden schien.

Es ist eine Ironie der Forschungsgeschichte, dass - wie der Fall des Karabel-Reliefs zeigt - zu dieser Zeit die monumentalen Überreste der hethitischen Kultur in Anatolien längst bekannt, aber nicht als hethitisch erkannt waren. Abgesehen von dem Karabel-Relief hatten Forschungsreisende in der ersten Hälfte des 19. Jhs. zahlreiche Felsreliefs mit einer fremdartigen archaischen Kunst entdeckt.  



Charles Texier  besucht Boğazköy

   Bereits 1834 hatte der französische Reisende Charles Texier (1802-1871) die Ruinen der Hethiterhauptstadt Hattuša bei dem Dörfchen Boğazköy 160 km östlich von Ankara besucht und fünf Jahre später in einem monumentalen Werk publiziert.

Der „Große Tempel“ von Hattuša nach Texier und in einem Photo um 1980.

Texier war der Meinung, hier den Ort Tavium wiedergefunden zu haben, der nach Plinius und Strabon die Hauptstadt des Galaterstammes der Trokmer und demnach in Zentral­anatolien zu suchen war. Später zog er eine Identifikation mit einer bei Herodot erwähnten Stadt namens Pteria vor.

Das türk. Yenice Kale („Neue Burg“) genannte Bauwerk in Hattuša nach Texier und in einem Photo von 1968.
Nişantaş in den 1970er Jahren

In der Stadtruine unmittelbar bei Boğazköy selbst, war eine verwitterte Inschrift in einer fremden Schrift zu sehen, die von den Einheimischen Nişantaş 'Zeichenfels' genannt wurde.

Heute wissen wir, dass es sich um die hethitische Hieroglyphenschrift handelt.

Zeichen desselben Schriftsystems waren in einer Felsengruppe ganz in der Nähe zu sehen, die die Türken Yazılıkaya 'Beschriebener Fels' nannten und die Reliefs mit merkwürdigen bildlichen Darstellungen aufwies.

Das Felsheiligtum Yazılıkaya bei Hattuša, Gesamtansicht und Zentralrelief in Kammer A.

Auch diesen Ort hatte Texier besucht und dokumentiert, er hatte aber – geprägt durch klassische Kunst - Schwierigkeiten, die Darstellungen angemessen wiederzugeben.

George Hamilton entdeckt das Sphingentor von Höyük

In der Nähe von Boğazköy war bei dem Dorf Höyük, heute Alaca Höyük genannt, eine Toranlage mit mächtigen Sphingen oberirdisch sichtbar. Dieser Ort war 1835 von dem englischen Reisenden George Hamilton entdeckt worden. (Damals brüteten noch regelmäßig Störche auf einem der Sphinxmonolithe, wie es ein Gemälde des 19. Jhs. zeigt.)

Das Sphingentor in Alaca Höyük, in einem Gemälde des 19. Jhs. und mit Reliefs (Abgüsse, Originale in Ankara) im heutigen Zustand.

Das Felsrelief von Ivriz

In verschiedenen Teilen des Landes waren den frühen Reisenden Reliefs bekannt geworden, die teilweise ebenfalls Zeichen jener damals unlesbaren Schrift zeigten, so das Felsrelief bei Ivriz - das schönste und größte Anatoliens, das bereits im 17. Jh. von dem osmanischen Gelehrten Kâtib Çelebi, auch Haci Halfa genannt (1609-1657), erwähnt wurde. Seit 1839 wurde es auch mehrfach von europäischen Reisenden besucht.

Das Felsrelief von Ivriz, Gesamtaufnahme und Detail (König Warpalawas im Gebet, Inschrift).

Es waren also schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Monumente, auch solche mit Schrift, in Anatolien bekannt geworden, die aus einer frühen, jedenfalls vorgriechischen Zeit stammten. Ein Zusammenhang mit den Ḥittîm - Hethitern - der Bibel oder den Chēta  der ägyptischen Quellen sah man jedoch bis 1879 nicht, vielmehr verortete man diese, wie erwähnt, in Syrien.

Die Wende: Hatti lag nicht in Syrien, sondern in Anatolien!

Einem britischen Forschungsreisenden, Edwin John Davis, war beim Besuch des Reliefs von Ivriz aufgefallen, dass die Schriftzeichen neben den beiden Figuren denen der Hama-Steine ähnelten. Er publizierte dies in einem Aufsatz 1876, also in demselben Jahr, in dem Sayce den Zusam­menhang zwischen den Hama-Steinen und dem Land Cheta / Hatti hergestellt hatte.

Sayce stellte nun fest, dass solche hieroglyphischen Zeichen auch anderswo in Anatolien bezeugt waren, z. B. auf dem Karabel-Relief, das er 1879 selbst in Augenschein nahm, und zog in einem weiteren Vortrag 1880 den wichtigen Schluss, dass das Reich der Hethiter seinen Schwerpunkt nicht in Syrien, sondern in Anatolien hatte. Etwa gleichzeitig war der französische Archäologe Georges Perrot (1832-1914) zu demselben Ergebnis gekommen.

Die Evidenz der Amarna-Briefe

Ein Brief des hethitischen Großkönigs Šuppiluliuma I. (2. Hälfte des 14. Jhs. v.Chr.) aus Amarna.

Die Bestätigung hierfür brachte ein Fund, den 1887 eine Bäuerin in Mittelägypten beim Graben nach Lehmziegeln in den Ruinen bei Amarna gemacht hatte und der bald darauf über den Antikenmarkt vor allem nach Berlin und London gelangte: Es handelte sich um einen Teil des pharaonischen Staatsarchivs aus dem 14. Jh. v.Chr., geschrieben in mesopotamischer Keilschrift und in babylonischer Sprache. Schrift und Sprache waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend erschlossen worden, so dass die Amarna-Briefe sofort nach ihrer Entdeckung gelesen werden konnten.

Die Briefe bewiesen unzweifelhaft, dass das Reich der Hethiter während der Amarna-Zeit, also der Zeit des Pharao Amenophis IV. sein Zentrum in Anatolien, nicht in Syrien hatte, und die Hethiter während der Zeit der Briefe Syrien eroberten.

Des Rätsels Lösung liegt in Boğazköy

Die Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun auf die ausgedehnte Stadtruine bei Boğazköy 160 km östlich von Ankara. Sayce versuchte 1882, den Troia-Ausgräber Heinrich Schliemann dazu zu bewegen, Boğazköy auszugraben, woraus bekanntlich nichts wurde.

Boğazköy, das gesamte Stadtgebiet von Norden.

 Carl Humann, ursprünglich ein Eisenbahningenieur, der sich dann der Archäologie zugewandt hatte und durch seine Entdeckung und Sicherung der Reliefs vom Pergamon-Altar bekannt ist, vermaß im selben Jahr, 1882, die Ruine und stellte Abgüsse der Reliefs von dem Felsheiligtum Yazılıkaya her, die heute im Vorderasiatischen Museum in Berlin betrachtet werden können.

Carl Humann (1839-1896), Porträt von dem Archäologen und Maler Osman Hamdi, dem Gründer und langjährigen Direktor des Archäologischen Museums in Istanbul.

Verschiedene Gelehrte (William Ramsay, Georges Perrot) äußerten in den 80er Jahren die Meinung, dass die Ruinen bei Boğazköy die Hauptstadt der Hethiter sein könnten. Humann dagegen folgte der älteren Auffassung, dass es sich um Pteria handele.

Überlegungen von britischer und deutscher Seite, in Boğazköy zu graben, blieben ergebnislos.

Erste Ausgrabungen

Die ersten Ausgrabungen in Boğazköy fanden 1893 und 1894 unter der Leitung von Ernest Chantre, Museumsvizedirektor in Lyon, im Auftrag des französischen Kulturministeriums statt. Sie standen allerdings unter keinem guten Stern, denn der Ausbruch der Cholera in Zentralanatolien und der Vorwurf der Begünstigung der Armenier, die in dieser Zeit von türkischer Seite als Unruhefaktor wahrgenommen wurden, setzte dem Unternehmen ein Ende.

Ernest Chantre (1843 – 1924)

Wichtig für die Einschätzung der Bedeutung der Ruine war aber, dass die Expedition von Chantre einige Tontafelfragmente aufgesammelt hatte, die in einer unbekannten Sprache geschrieben waren. Der Schlüssel zum Hethiterproblem lag also an diesem Ort.

 

Deutsche und englische Bemühungen um eine Grabungslizenz

Noch in Unkenntnis der französischen Aktivitäten hatte es auch in Berlin Überlegungen gegeben, in Boğazköy tätig zu werden, doch scheiterten sie schon im diplomatischen Vorfeld wegen der aufgeheizten politischen Lage in der Türkei.

In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts kam es zu einer britisch-deutschen Konkurrenz um die Konzession für eine Ausgrabung in Boğazköy.

Osman Hamdi Bey (1842–1910)

Eine wichtige Rolle spielte zu dieser Zeit der hochangesehene Direktor des Kaiserlich-Ottomanischen Museums in Istanbul, Osman Hamdi Bey. Er entstammte der osmanischen Elite, sein Vater war Botschafter in Frankreich und Großwesir, also Ministerpräsident, gewesen, er selbst hatte sich zwölf Jahre in Frankreich aufgehalten und dort Kunst und Jurisprudenz studiert.

Er hatte ein strenges Antikengesetz veranlasst, das die Ausfuhr von Altertümern grundsätzlich verbot, ging damit aber sehr pragmatisch um, indem er durchaus über Fundteilungen verhan­delte, um zahlungskräftige und kompetente Ausgräber ins Land zu holen.

Hugo Winckler und Theodor Makridi

Der Wettlauf um die Boğazköy-Lizenz führte schließlich zu einer überraschenden Lösung: Im Namen und im Auftrag des Kaiserlich-Osmanischen Anti­ken­museums in Istanbul übernahm ein Konservator dieser Institution, Theodor Makridi, 1906 die Leitung einer Ausgrabung in den Ruinen bei Boğazköy, während der mit ihm befreundete deutsche Assyriologe Hugo Winckler für die wissenschaftliche Auswertung der Textfunde zuständig war. Das Osmanische Reich blieb auf diese Weise Eigentümer der Funde. Vorausgegangen war eine kurze gemeinsame Erkundungsreise im Oktober 1905, bei bereits am Nordwestrand der Büyükkale Tontafelfragmente aufgelesen werden konnten. Makridi und Winckler hatten sich 1903-04 bei Ausgrabungen im Ešmun-Tempel bei Sidon/Libanon kennen- und schätzengelernt. Für eine – allerdings nur bescheidene – Finanzierung der ersten Grabungskampagne 1906 konnte Winckler zunächst die von ihm ein Jahrzehnt zuvor selbst gegründete Vorderasiatische Gesellschaft sowie Berliner Mäzene gewinnen, für die Kampagne des darauffolgenden Jahres standen ihm dank der Unterstützung der Deutschen Orient-Gesellschaft bzw. genauer durch deren Stellvertr. Schatzmeister James Simon, den großen Berliner Förderer von Wissenschaft, Kunst und sozialen Belangen, erheblich mehr Mittel zur Verfügung. Im selben Jahr begannen auch Vermessungen und Architektur-Untersuchungen durch das Deutsche Archäologische Institut, das bis heute in Boğazköy tätig ist.

Hugo Winckler (1863-1913)

Hugo Winckler, 1863 in dem preußischen Provinzstädtchen Gräfen­haini­chen bei Halle geboren, hatte in Berlin Orientalistik und insbesondere die da­mals aufblühende Assyriologie studiert. Obwohl er mehrere grundlegende Editionen sowie eine 'Geschichte Babyloniens und Assyriens' publizierte und als einer der produktivsten Assyriologen seiner Zeit galt, erlangte er nie einen Lehrstuhl, wurde aber immerhin 1904 „außeretatmäßiger außerordentlicher Professor“. Bei seinem akademischen Miss­erfolg spielte wohl seine schwierige Persönlichkeit ebenso eine Rolle wie seine Hypothesen zu 'Sternenglaube' und 'Panbabylonismus'.

Theodor Makridi (1872–1940)

Dadurch dass die Auswertung der reichen Textfunde in Deutschland stattfand – der größte Teil der Keilschrifttafeln wurden zu Konservierung und wissenschaftlichen Bearbeitung 1915 nach Berlin ausgeliehen –, hatte das Fach Hethitologie, das aus dem Studium der Textfunde erwuchs, anfangs seinen Schwerpunkt in Deutschland. Obwohl es noch heute an Lehr- und Forschungseinrichtungen in Deutschland gut vertreten ist, wird aber seit langem auch in zahlreichen anderen Ländern auf dem Gebiet der Hethitologie gelehrt und geforscht.

Tontafelfunde und archäologische Forschung

Nach einer dreitägigen Besichtigung und Testgrabung im Herbst 1905, bei der 35 Tontafelbruchstücke geborgen wurden, fand 1906 die erste reguläre Grabungskampagne statt. Gegraben wurde dort, wo schon Chantre Keilschrifttafeln gefunden hatte, nämlich am Hang der Königsresidenz, die im Türkischen Büyükkale 'Große Burg' heißt. Der wichtigste und überraschendste Fund bestand in einer babylonischen Fassung des Friedens- und Freundschaftsvertrages mit Ägypten, von dem man schon seit langem die ägyptisch-hieroglyphische Fassung kannte. Damit war endgültig bewiesen, dass es sich hier um die Hauptstadt des hethitischen Reiches handelte.

Büyükkale, die Königsresidenz von Hattuša (Modell)

Winckler hat später einen lebhaften und lesenswerten Bericht über die Boğazköy-Aufenthalte 1905 und 1906 geschrieben. Er blieb Fragment und wurde erst nach seinem Tod unter dem Titel „Nach Boghasköi!“ veröffentlicht.

Wincklers und Makridis zweite Kampagne in Boğazköy 1907 wurde von dem großen Berliner Mäzen James Simon durch die Deutsche Orient-Gesellschaft finanziert; parallel dazu fanden Vermessungen und Ausgrabungen des Deutschen Archäo­lo­gischen Instituts statt. Makridis Grabungsmethoden und Dokumentation waren auch für jene Zeit ganz unzulänglich, doch Winckler, der als reiner Philologe nur an den Texten, nicht an ihrem archäologischen Kontext interessiert war, kam voll auf seine Kosten: Die Ergebnisse dieser zweiten Kampagne waren über­wäl­tigend; in den Magazinen des Großen Tempels fand man mehrere tausend Tontafeln und Tontafelfragmente, die mei­sten in der zu dieser Zeit noch unverständlichen hethitischen Sprache, viele aber auch im längst entschlüsselten Babylonischen, das im 2. vorchristlichen Jahr­tau­send als Diplomatensprache diente. Auf der Grundlage der babylonischen Tex­te – darunter Staatsverträge und Briefe – konnte Winkler bereits 1907 einen Ab­riss der hethitischen Geschichte vorlegen, der die Reihe der hethitischen Groß­kö­ni­ge des späten 14. und des 13. Jahrhunderts v.Chr. im wesentlichen richtig re­kon­struierte.

Unterbrechung und vorläufiges Ende der Grabungen

Abdulhamid II. auf dem Weg zum Freitagsgebet (Photo aus dem Jahr seiner Absetzung 1908)

Im Jahr 1908 fand keine weitere Ausgrabung statt. In diesem Jahr erlebte das Osmanische Reich eine Krise. Der autoritär und polizeistaatlich regierende Sultan Abdulhamid II. wurde von den sog. „Jungtürken“ zum Thronverzicht gezwungen und in Thessaloniki interniert.

Für deutsche Interessen war dies nicht unproblematisch, weil das Deutsche Reich durch die persönlichen Beziehungen zwischen dem Sultan und dem Kaiser seine diplomatische Position verbessert hatte –, was sich sowohl beim Eisenbahnbau wie auch bei den archäologischen Ausgrabungen bemerkbar machte.

Angesichts der spektakulären Funde der Grabung 1907 bemühten sich Archäologen anderer Länder – Großbritannien, USA und Frankreich  - die Boğazköy-Lizenz zu erwerben. Diese Bemühungen blieben aber ergebnislos. Winckler konnte noch zweimal in Boğazköy graben, bevor er 1913 starb. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seine Folgen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei ließen eine Fortführung lange Zeit nicht zu.

Bedřich Hrozný entschlüsselt das Hethitische

Bedřich Hrozný (1879-1952)

Die hethitischen Texte – anders als die babylonischen – waren für Winckler noch unverständlich, ein Durchbruch erfolgte aber kurz nach seinem Tod durch die Arbeit des tschechischen Gelehrten Bedřich Hrozný, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Professor in Wien, später in Prag. In einem berühmt gewordenen Aufsatz in den Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft konnte er 1915 den Nachweis erbringen, dass das Hethitische der indogermanischen Sprachenfamilie angehörte, also jener weitverzweigten Gruppe von Sprachen, der u.a. das Griechische und Lateinische, die indoiranischen Sprachen, die keltischen, germanischen und slavischen Sprachen angehören.

Hrozný hatte bei dem Studium der hethitischen Tafeln beobachtet, dass zahlreiche Wörter Endungen aufwiesen, die mit den aus indogermanischen Sprachen bekannten genau übereinstimmten. Auch Wortübereinstimmungen wie wātar 'Wasser'  und altsächs. watar, ug 'ich' und lat. ego , kuis 'wer' und lat. quis konnte er aufzeigen.

Als Bestätigung zitiert Hrozný einen Satz aus einer Instruktion für Tempelbedienstete, der damit als der erste vollständig gedeutete Satz der Hethitologie gelten darf:

Die (in Versalien transkribierten) Wortzeichen kannte man bereits aus der mesopotamischen Keilschrift: NINDA = 'Brot'. Daher lag es nahe, das mit Silbenzeichen geschriebene watar mit 'Wasser' zu identifizieren. Die beiden  auf -teni endenden Formen konnten mit der altindischen und griechischen Endung der 2. Person Plural Präsens (-griech. -te, altind. -thana- ) verglichen werden, und für die sich dadurch ergebenden Verbalstämme ezz(a)- und ek- bot sich der Vergleich mit lat. edere „essen“ bzw. aqua „Wasser“ an.

Hroznýs grundlegende Entdeckung markiert die Wende von der tastenden Erschließung der Hethiter als eines historischen Faktors der altorientalischen Welt zu einer veritablen Altphilologie. Das Studium hethitischer Texte schritt in den folgenden Jahren stürmisch voran. Schon ein Jahrzehnt später war die hethitische Philologie in der Lage, Texteditionen vor allem von historischen Texten vorzulegen, die heute noch wertvoll sind. Mittlerweile verfügen wir über Wörterbücher, Grammatiken und Texteditionen sowie eine immer schwerer zu überschauende Forschungsliteratur von tausenden von Titeln.


© Gernot Wilhelm 2013