Orakel und Omina: Hethitische Vorzeichenkunden

Seit der Antike haftet am Orakel ebenso wie an der Vorzeichenkunde überhaupt der Verdacht des Aberglaubens und des Schwindels. Der verbreiteten Neigung, Texten aus diesem Bereich deshalb von vornherein wenig Wert zuzusprechen, sollte man jedoch in der Beschäftigung mit der hethitischen Kultur nicht nachgeben. Denn hier bildet die Vorzeichendeutung – neben Gebet und Tempelkult – einen elementaren Bestandteil des religiösen Lebens.

Leben im Einklang mit dem Willen der Götter

Folgender Passus aus dem Gebet des Kantuzili, eines vornehmen hethitischen Priesters aus der ersten Hälfte des 14. Jh., veranschaulicht die Funktion der Mantik innerhalb der hethitischen Religion besonders klar:

Lebermodell (2.Hälfte 16. oder 1.Hälfte 15.Jh.v.Chr.)

„Jetzt aber möge mein Gott mir von ganzem Herzen seinen Wunsch und seinen Willen eröffnen! Möge er mir meine Verfehlung benennen, damit ich sie anerkennen kann! Entweder möge mein Gott in einem Traum zu mir sprechen; mein Gott möge mir seinen Wunsch eröffnen, mir meine Verfehlung benennen, damit ich sie anerkennen kann! Oder die Seherin möge zu mir sprechen, oder der Opferschauer möge aus der Leber lesend zu mir sprechen! Möge mein Gott mir von ganzem Herzen seinen Wunsch und seinen Willen eröffnen; möge er mir meine Verfehlung benennen, damit ich sie anerkennen kann!“

In der Not, scheinbar im Stich gelassen von der angerufenen Gottheit forscht der Beter nach möglichen Ursachen des göttlichen Zorns: eigene Taten oder Unterlassungen, die im Widerspruch zum Willen der Götter stehen. Die Antwort der Gottheit auf das Gebet aber lässt sich mit den Methoden der Vorzeichenkunde erschließen. Dass man die Bestätigung einer Verfehlung durch ein göttliches Orakel nicht auf die leichte Schulter nahm, zeigt die Erwähnung des mantischen Befundes in einem der politisch brisantesten Gebete der hethitischen Literatur. Mursili II. betet zu den Göttern wegen der furchtbaren Epidemie, die das Land heimsucht; die Götter zürnen wegen des Mordes an Tudhalija, durch dessen Tod Suppiluliuma, der Vater Mursilis, die hethitische Königswürde erlangt hatte:

„Und weil das Land Hattusa (so) lange dahinstirbt, so fiel mir die Sache mit Tudhalija dem Jüngeren … aufs Gewissen; auch veranstaltete ich eine Orakelanfrage bei der Gottheit. Und da wurde die Sache mit Tudhalija dem Jüngeren von der Gottheit auch festgestellt.“

Systematische Erkundung des göttlichen Willens

Sollen Missstände oder Verfehlungen, die den Zorn einer Gottheit ausgelöst haben, durch ein Orakel bestimmt werden, benötigt man unzweideutige und konkrete Antworten der befragten Gottheit. Zur Feststellung eben solcher Resultate entwickelten die Hethiter eine ausgeklügelte Orakelmethode; diese ist in ihrer Systematik in der altorientalischen Welt einzigartig, auch wenn wichtige Einzelelemente aus Babylonien und von den Hurritern übernommen wurden.

Das Grundprinzip folgt einem binären Schema. Der oft detailliert ausgeführten Anfrage fügt der Seher ein hypothetisches Resultat bei; letzteres orientiert sich am ungünstigen bzw. günstigen Charakter der in der Anfrage thematisierten Umstände: „Wenn das und das sich so und so verhält, dann soll das Orakelresultat ungünstig (bzw. günstig) sein!“ Stimmt der dann durchgeführte tatsächliche Orakelbefund mit dem hypothetischen überein, sind auch die in der Anfrage formulierten hypothetischen Umstände von göttlicher Autorität bestätigt.

Dieses schlichte Grundschema wird nun in zweierlei Hinsicht erweitert: Zum einen werden zahlreiche logisch aufeinander aufbauende Anfragen aneinandergereiht; von Schritt zu Schritt erlangt man so ein immer genaueres Resultat. Zum anderen kennen die Hethiter nicht nur eine, sondern mehrere Orakeltechniken; das mit einer bestimmten Technik gewonnene Resultat kann deshalb mit Hilfe der alternativen Methoden auf seine Richtigkeit hin überprüft werden. So entsteht eine komplexe Orakelsystematik, die ein Höchstmaß an Präzision und Verlässlichkeit garantiert.

Leberschau: Babylonische Tradition in Hattusa

Schon im 3. Jt. v. Chr. war es in Babylonien üblich, die Innereien des Opfertieres, also insbesondere des Schafes als des Opfertieres schlechthin, auf ominöse Befunde hin zu untersuchen. Dabei autopsierte man vor allem den Zustand der Leber; aber auch Lunge, Herz, Dickdarm, Brustbein und Rückenwirbel fanden Beachtung. Beobachtet wurden Vorhandensein und Gestalt von zumeist elf Einzelbereichen oder -organen, die man als Teile der Leber ansah, unter ihnen auch die Gallenblase. Die Detailbeobachtungen summierten sich zu einem positiven oder negativen Gesamtresultat.

Paradigmatische Befunde und ihre Resultate wurden seit dem frühen 2. Jt. in großen Kompendien zusammengestellt, die kurz als „Omina“ bezeichnet werden. Solche Omenserien fanden ebenso wie die Praxis der Leberschau selbst weite Verbreitung über Babylonien hinaus. Die Hethiter adaptierten die Kenntnisse über die Eingeweideschau von den Hurritern, deren Kultur Obermesopotamien und Nordsyrien im 2. Jt. maßgeblich prägte.

Als Lehrmaterial und Nachschlagewerke dienten – teils beschriftete – Modelle von Schafslebern, die im ganzen Alten Orient bekannt waren. Ebenso wie die Praxis der Leberschau begegnen solche Modelle dann auch bei den Etruskern als orientalisches Erbe.

„Da machten wir uns daran, mit Vögeln Orakel einzuholen“

Vögel stehen im Zentrum einer anderen Orakeltechnik: der Beobachtung des Vogelflugs. Wie die Eingeweideschau war die Vogelschau im ganzen altorientalischen Kulturkreis bekannt – und einmal mehr lebt auch hier bei Griechen und Römern orientalisches Erbe weiter. Die Ursprünge dieser Art des Auguriums scheinen im obermesopotamisch-syrischen Raum zu liegen.

In Anatolien jedoch perfektionierte man diese Form der Vorzeichendeutung in einem sonst unbekannten Maß, wie die detaillierten hethitischen Vogelschau-Protokolle eindrücklich demonstrieren. Daß gerade auf diesem Gebiet syro-anatolische Einflüsse auf die mantischen Praktiken im jüngeren Assyrien zu konstatieren sind, verdankt sich deshalb sicher nicht dem Zufall. Der hethitische Vogelschauer beobachtete das Verhalten wilder Vögel – knapp dreißig Vogelarten nennen die Texte in diesem Zusammenhang – innerhalb seines Gesichtsfeldes über eine bestimmte Zeit hin; die Bewegungen der Vögel werden aus der Perspektive des Augurs protokolliert.

Als Beispiel sei ein Ausschnitt aus einem hethitischen Brief des 14. Jh. zitiert, der über die Durchführung einer Vogelschau berichtet:

„Diese Vögel der ‘Bewegung’ flogen auf: Als erster flog ein marassi-Vogel hinten herab …; ein Adler …; ein alliya-Vogel flog hinten herab …; seinem Genossen begegnete er unten. … Hinter dem Weg: der Adler flog hinten herab … .“

Wie das Resultat einer solchen Beobachtung bestimmt wurde, entgeht uns; aber auch hier wird die Orakelanfrage in ein hypothetisches Resultat gekleidet, das die Vögel dann entweder „feststellen“, also bestätigen, oder „verwerfen“ wie es in den Texten heißt.

Die Weise Frau befragt das Schicksal

Neben Opfer- und Vogelschauer erwähnen die Texte regelmäßig eine dritte auf das Orakelwesen spezialisierte Person: die „Weise Frau“ (sumerisches Wortzeichen:munusšu.gi „Alte“). Sie ist die Spezialistin für ein Orakel, das die Hethiter schlicht „Verrichtung“ nennen. Die Weise Frau interpretiert dabei Konstellationen zwischen diversen Symbol-Gegenständen, also Losen irgendeiner Art. Zumindest ein Teil dieser Lose ist beweglich, „agiert“ gewissermaßen. Wie die Weise Frau die Lose in Bewegung versetzte und wie diese Symbole im einzelnen aussahen wissen wir nicht; gelegentlich nehmen die Namen der Lose unmittelbar Bezug auf den Inhalt der Anfrage, meist wird aber ein fester Grundstock an Symbolen verwendet.

Das Protokoll über ein solches Orakel, dessen Anfrage hier eine Frau names Sauskatti betraf, sieht dann so aus:

„Der könig nahm sich richtigkeit und legte es rechts von sauskatti hin. Am zweiten ‘Tag’: ist die kleine krankheit genommen worden und sie ist im guten. Am dritten ‘Tag’ ist der groll der götter genommen worden und dem sonnengott des himmels gegeben worden. (Resultat:) Günstig.“

Eine andere, eng mit dem Losorakel verwandte Methode der Vorzeichenkunde, derer sich die Weise Frau bedient, verwendet eine Schlange als bewegliches Element. Die Expertin beobachtete, in welcher Weise sich eine Schlange zwischen bestimmten Symbolen bewegt.

Universales Aufklärungsinstrument

Mithilfe der Kombination diverser Orakeltechniken zur Gegenkontrolle und langer Ketten von geschickt aufeinander abgestimmten Anfragen lässt sich nun natürlich nicht nur der Grund für den Zorn einer bestimmten Gottheit herausfinden. Ganz im Gegenteil wird das Orakel zu einem universal anwendbaren, in sich geradezu wissenschaftlich-rational funktionierenden Aufklärungsinstrument. Ob es um die richtige Route auf dem Feldzug, die Identität und Missetaten von Feinden des Königs, Intrigen bei Hofe oder um die korrekte, dem Wunsch der Gottheit entsprechende Durchführung des Kultes geht: In wichtigen Zweifelsfällen wendet man sich mittels einer Orakelanfrage an die Gottheit. Das ausgefeilte System des Orakels aber sorgte dafür, dass ein hethitischer König nie in die Lage des Kroisos kommen konnte, von einem zweideutigen Orakelspruch in die Irre geleitet zu werden.

Alptraum und Sonnenfinsternis

Ein typischer Anlaß für eine Orakelanfrage waren beunruhigende Träume, sprachen doch die Götter im Traum unmittelbar zu den Menschen. So wurde die oben in Auszügen zitierte Vogelschau zur Aufklärung eines Traumes durchgeführt, in dem „auf die Tochter … immer wieder eingeschlagen (wurde)“.

Umgekehrt nutzte man den Traum aktiv als Orakeltechnik. Die Inkubation, der Tempelschlaf, oblag den Priestern. Leider bieten die Texte kaum Informationen über die Form der Vorzeichenkunde; dasselbe gilt bedauerlicherweise für die Ausübung der Prophetie durch einen Ekstatiker, den „Gottesmann“ (hethitisch siunijant-).

Auch ungewöhnliche Naturphänomene, die offensichtlich als die Botschaft einer Gottheit verstanden werden mußten, bestimmte man in ihrer Bedeutung durch Orakelanfragen: So läßt Mursili II. durch Orakel feststellen, daß sich die auffällige Sonnenerscheinung, die er auf dem Feldzug nach Azzi sieht – offenbar ein ungünstiges Omen –, nicht auf seine eigene Person bezieht. Auffälligerweise greift man zur Deutung des Sonnenphänomens nicht auf die astronomischen Omenkompendien babylonischen Ursprungs zurück, die in Hattusa zumindest teilweise bekannt waren. Offensichtlich wurden sie nie konsequent in das spezifisch hethitische Konzept der Vorzeichenkunde integriert, wie man ja auch selbst keine Omina-Sammlungen nach babylonischem Vorbild anlegt.

© Daniel Schwemer


Eine ausführlichere Fassung dieses Textes ist als „Leberschau, Losorakel, Vogelflug und Traumgesicht: Formen und Funktionen der Vorzeichendeutung“, in: Die Hethiter – Begleitband zur Ausstellung der Kunsthalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2002 , 140–45, erschienen.