Hethitologie

Die Hethitologie ist ein Forschungsgebiet, das sich vor allem mit den schriftlichen Zeugnissen aus dem hethitischen Anatolien beschäftigt (Mittlere und Späte Bronzezeit; ca. 2000–1200 v. Chr.). Hethitische Schreiber benutzten die Keilschrift, die im südlichen Mesopotamien im späten 4. Jahrtausend erfunden worden war und in der Folgezeit in weiten Teilen Vorderasiens übernommen und für die Verschriftlichung verschiedener altorientalischer Sprachen adaptiert wurde. Die Hethiter brachten die erste einheimische Schriftkultur der Türkei hervor.

Hethitische Keilschrifttafel aus Hattusa (Boğazköy), die aus mehreren Fragmenten zusammengesetzt wurde. Der Text gehört zum umfangreichen Ritual für eine königliche Bestattung.

Bei weitem die meisten hethitischen Keilschrifttafeln wurden in Hattusa (heute Boğazköy) gefunden, der Hauptstadt des Hethiterreiches. Die Ausgrabungen in Hattusa wurden über viele Jahre von verschiedenen deutschen Institutionen initiiert und finanziert (1906 und 1911, 1931–39; 1951–); sie werden bis heute unter der Ägide des Deutschen Archäologischen Instituts kontinuierlich fortgeführt. Auch in den vergangenen Jahrzehnten wurden bei den Ausgrabungen in Hattusa immer wieder Keilschrifttafeln gefunden. Bis heute konnten etwa 30.000 Tafelfragmente und Tafeln geborgen werden.

Die Ruinen des Großen Tempels des Wettergottes von Hatti und der Sonnengöttin von Arinna. In den um den eigentlichen Tempel liegenden Magazinräumen wurden 1906 umfangreiche Keilschrifttafel-Archive entdeckt.

Zusammen mit den archäologischen Zeugnissen erlauben die Schriftquellen die Rekonstruktion der Geschichte und Kultur Anatoliens im 2. Jahrtausend v. Chr. Die einzigartige kulturgeschichtliche Bedeutung der Quellengruppe findet auch darin Ausdruck, dass die UNESCO die Keilschrifttafeln aus Boğazköy 2001 in ihr „Memory of the World“-Register aufgenommen hat.

Das Dokument, mit dem die Aufnahme der Keilschrifttafeln aus Boğazköy in das „Memory of the World“-Register der UNESCO beurkundet wurde.

Die Hethitologie heute schaut auf mehr als ein Jahrhundert überaus produktiver Forschung zurück. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah sich die Erforschung der Hethiter mit zahllosen ungelösten Problemen konfrontiert, doch im Laufe des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich die Hethitologie zu einer wohl-etablierten philologischen Disziplin, die wesentlich zum Verständnis der Geschichte und Kulturen des Alten Orients beiträgt.

Pharaoh Ramses II. (1279–13); Statue im British Museum.

Die Keilschrifttafeln aus dem hethitischen Anatolien sind besonders unter folgenden Aspekten von hervorragender Bedeutung:

(1) Das Hethitische ist von besonderem Interesse für die vergleichende historische Sprachwissenschaft: das Hethitische und die anderen, mit ihm eng verwandten altanatolischen Sprachen (Luwisch, Palaisch) sind die am frühesten bezeugten Vertreter der indo-europäischen Sprachfamilie. Darüber hinaus geben die hethitischen Tafelsammlungen Zugang zu zwei weiteren altorientalischen Sprachen, die mit dem Hethitischen nicht verwandt sind (Hattisch und Hurritisch).

(2) Die Texte aus den hethitischen Tafelsammlungen bilden die wichtigste Quellengruppe für die politische Geschichte Vorderasiens in der Späten Bronzezeit (1550–1200 v. Chr.). Die Geschichte Ägyptens und Syriens während der Amarna-Zeit (14. Jh.; späte 18. Dynastie) und der Regierungszeit Ramses’ II. (19. Dynastie) ist vor allem in hethitischen Quellen dokumentiert.

Der Friedensvertrag zwischen Ramses II. und dem hethitischen Großkönig Hattusili III. in der ägyptischen Fassung auf Steinblöcken in Karnak (Oberägypten); das hethitische Original des Textes war auf einer Silbertafel niedergelegt, die nicht erhalten ist.

(3) Die Tafeln aus Boğazköy (und in geringerem Maße auch aus anderen Fundorten) überliefern sonst unbekannte mythologische Texte und stellen das umfangreichste altorientalische Korpus von Ritual- und Orakeltexten aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. Sie sind daher eine überaus wertvolle Quellengruppe für das Studium der altanatolischen Religionen und der altorientalischen Religionsgeschichte insgesamt. Einer der mythologischen Texte aus Hattusa zeigt enge Parallelen zur Theogonie des Hesiod: eine Folge von sich Götterkönigen gipfelt in der Königsherrschaft des Wettergottes (griechisch Zeus; hurro-hethitisch Teschub).

Der Wettergott im Kampf mit einem Schlangendrachen; Relief aus Arslantepe (bei Malatya); 9. Jh. v. Chr.

(4) Auf dem Gebiet der Literatur zeigen die historisch-narrativen Texte, die in der Regierungszeit des hethitischen Königs Mursili II. komponiert wurden, eine zuvor im Alten Orient nicht bezeugte Unmittelbarkeit und Lebendigkeit. Sie gehören zu den hervorragendsten Zeugnissen altorientalischer erzählender Literatur.

Kemal Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, besichtigt Keramik-Funde der Ausgrabungen in Alaca Höyük.

(5) Nicht zuletzt besaß die Erforschung der Hethiter auch Bedeutung für den Modernisierungsprozess der Türkei im 20. Jh.: Als Kemal Atatürk, der Gründer der türkischen Republik, das neue politische, wirtschaftliche und kulturelle Profil des türkischen Staates und seiner Institutionen gestaltete, legte er Wert darauf, die prähistorische und historische Forschung in der Türkei zu unterstützen. Er gründete Türk Tarih Kurumu, die „Türkische historische Gesellschaft“, und informierte sich regelmäßig über die archäologischen Ausgrabungen in der Türkei, einschießlich der ersten groß angelegten Ausgrabung der Türk Tarih Kurumu in Alaca Höyük unweit der hethitischen Hauptstadt Hattusa (Boğazköy).