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CTH 272

Citatio: (ed.), hethiter.net/: CTH 272 (INTR 2013-04-15)

Königserlass (CTH 272)

Textüberlieferung

Exemplar

Edition

Inventarnummer

Fundort

A

KBo 22.1

Bo 71/222

J/20, Abschnitt XII 8 Ostecke, Scherbenschutt über grosssteiniger Mauer der oberen Bauschicht, 1,5 m unter Gelände

Einkolumnige Tafel, von der nur der untere Teil der Vorderseite, der untere Rand und der obere Teil der Rückseite erhalten sind.

Editionsgeschichte

Nach der ersten partiellen Edition (Transliteration, Übersetzung und Kommentar) von Archi A. 1979c ist der Text in Marazzi M. 1988a ausführlich neu analysiert und übersetzt worden (mit Verweisen auf Neu E. 1984c, S. 99, Starke F. 1977a, Nr. 24, 29, 43, 109, 152, 224, 312; S. 176 u. 142, Beckman G. 1982a, S. 440f., Hoffner H.A. 1976d).

Eine Übersetzung mit kurzer Einleitung hat später Klinger J. 2001d vorgelegt; eine neue Transliteration mit einer ausführlichen kritischen Bibliographie bietet jetzt Groddek D. 2008c.

Wichtige Textstellen sind außerdem in Beal R.H. 1988b (S. 280f.), Goedegebuure P. 2003a (S. 189, 207, 218, 221, 262, 267), Gilan A. 2009a (S. 132ff.), Miller J.L. 2011b (S. 195f.), Fritzsche E. 2011a (S. 39f.) behandelt worden.

Paläographische Eigenschaften und Datierung

Der Text wurde schon bei der Veröffentlichung in der KBo-Reihe (Otten H. - Rüster C. 1974a) als „in altem Ductus“ gekennzeichnet.

Die Eigenschaften einzelner Zeichen (insbes. EN, AK und ŠA; s. zuletzt Hout Th.P.J. van den 2012a), die Form der Tafel („Rectangular plano-convex cushion-shaped“, Typ A IV der Typologie von Waal W. 2010b, S. 34; s. auch Waal W. 2012a, S. 222f.), sowie die oft dicht beieinander eingeritzten Zeichen (die auffallenden Stellen sind durch + in der Transliteration von Groddek gekennzeichnet) stellen diesen Text unter die ältesten Originale in ah. Ductus ein. Andererseits aber sind die Form von DA und IT sowie die alternierenden Schreibungen da-me-eš-ki-wa-an (Z. 4'), ta-me-eš-ket9-te-ni (Z. 3') und da-me-eš-ket9-te-ni (Z. 19') als Elemente für eine spätere Datierung verwertet worden (s. zuletzt Kloekhorst A. 2010b, S. 209, Anm. 30).

Angesichts der (weiter unten beschriebenen) thematischen und formalen Eigenschaften des Textes wird hier eine allgemeine Datierung zwischen Telepinu und Muwatalli I bevorzugt.

Literarische Bestimmung und Inhaltsübersicht

Obwohl mehrmals als Dienstanweisung (bzw. Instruktion) bezeichnet (s. z.B. die Typologisierung in Pecchioli Daddi F. 2005c, oder in Klinger J. 2001d) lässt sich der Text (wie zuletzt auch von Miller J.L. 2011b deutlich hervorgehoben) nicht einfach in diese literarische Kategorie einordnen.

Obwohl das Fehlen des Anfangs des Dokuments keine sichere Bestimmung zulässt, scheinen die enthaltenen Paragrafen vielmehr auf die einleitende Partie eines Erlasses hinzuweisen (die sog. historische Einleitung), wobei der Text gerade dort abbricht, wo das Erlassen der (neuen) königlichen Regelung anfängt (Z. 32' kinun kāš kiššan iššai …).

Die in den erhaltenen Paragrafen enthaltenen Thematiken lassen sich folgendermaßen schematisch zusammenstellen:

§ 1': Vs. 1'-2'

Die wenigen in diesem Paragrafen noch erhaltenen Wörter weisen auf ein sich zur Zeit des „Vaters des Königs“ abspielendes (und als paradigmatisches Beispiel in Betracht gezogenes) Ereignis hin, das seine Aktualisierung in den darauffolgenden Beschwerden bez. der Unterdrückung der „Dienstpflichtigen“ (LÚ.MEŠ GIŠTUKUL) zu haben scheint.

§ 2': Vs. 3'-6'

Vom König wird hier hochstwahrscheinlich die in Z. 23' ausdrücklich erwähnte Kategorie der LÚ.MEŠDUGUD direkt angesprochen, deren ungerechtes Verhalten den unmittelbaren untergeordneten Dienstpflichtigen gegenüber (LÚ.MEŠ GIŠTUKUL) die konsequente und weitere Unterdrückung des unter diesen handelnden Personals verursacht zu haben scheint.

Dem Vorwurf, das „Wort“ des Vaters des Königs nicht bewahrt zu haben (paḫšanutten), folgt die Drohung, ohne die Erinnerung an die Königslehre zugrunde zu gehen.

§§ 3'-4': Vs. 7'-12'

␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣Vs. 13'-15'

Diese zwei Paragrafen enthalten ein weiteres paradigmatisches Beispiel, das als Einleitung zu einem neuen Korruptionsfall dient: nämlich das Ausbeuten der zur Lieferung von Verpflegungs-/Proviantmitteln zuständigen Abgabepflichtigen (LÚ.MEŠNAŠI ṢIDITI). In § 3' wird einfach dargestellt, was Taš aus Kuluppa von den fünf Abgabepflichtigen, die sich unter der Aufsicht von Šarka befinden, als regelmäßiges Verpflegungsbudget bekommt. In dem darauffolgenden, was er als „Geschenk“ (mit der Komplizenschaft von Šarka?) noch dazu verlangt.

§§ 5'-7': u.Rd. 16'-17'

␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣Rs. 18'-20'

␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣Rs. 21'-25'

␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣␣Rs. 26'-33'

In den 3 darauffolgenden Paragrafen werden die LÚ.MEŠDUGUD wieder vom König direkt angeredet. Hier werden in kontrastiver Form die jeweiligen vom Vater des Königs ursprünglich ergriffenen Maßnahmen und erteilten Instruktionen für das gerechte Handeln der LÚ.MEŠDUGUD und ihr andauernd korruptes Verhalten dargestellt.

Das Ende des Paragrafen leitet zum königlichen Erlass der neuen Normen über.

Bemerkungen zu einzelnen Textpassagen

- Das Gedächtnis der königlichen Lehre: § 2'

Dem in § 2', im Anschluss an den durch einen rhetorischen Fragesatz ausgedruckten Vorwurf, die königliche Lehre nicht bewahrt zu haben (Z. 4'-5': kiššan paḫšanutten), folgt ein mit takku eingeleiteter Konditionalsatz (Z. 5': takku šumeš natta šaktēni), dessen Apodosis aus zwei (jeweils mit kāni und nu eingeleiteten) Nachsätzen zu bestehen scheint.

In den meisten Kommentaren wurde diese Textstelle folgendermaßen aufgefasst1: „Wenn ihr (das Wort meines Vaters) nicht kennt, sind hier keine alten Männer, (so dass einer von ihnen) euch das Wort meines Vaters erzählen/sagen kann?“

Wie schon aber von A. Archi richtig hervorgehoben, kommt dem VP der Protasis (šaktēni) nicht die einfache Bedeutung „kennen“, sondern der spezifische Wert „(im Gedächtnis bewusst) beibehalten“ zu.2 Nur in einer solchen Perspektive kann der in der Apodosis enthaltenen Drohung die richtige Relevanz beigemessen werden: „Wenn ihr euch (an das Wort meines Vaters) nicht erinnern werdet, wird es hier (d.i. für euch und im Lande Hatti) kein Greisenalter geben!“3, eine Drohung, die in manchen Erlässen zum Leitmotiv wird.4 Obwohl die Transliteration me-ma-i der von Archi dargebotenen Lesung pár-ku-i im zweiten Nachsatz vorzuziehen ist 5, wird hier AWAT ABI=YA- dem Vorschlag von A. Archi entsprechend - als syntaktisch markiertes Subjekt des Satzes aufgefasst: „für euch spricht das Wort meines Vaters!“.6

- Syntaktische Eigenschaften von §§ 5'-7'

Die königliche Anrede an die LÚ.MEŠDUGUD, die dem paradigmatischen Beispiel von Taš unmittelbar folgt, scheint nach einem festen Schema mit sich wiederholenden Partituren konstruiert zu sein:

Die allokutive Einleitungsfunktion von kašatta=wa (mit erfolgter Grammatikalisierung des ursprünglichen enklitischen Personalpronomens -tta und zusätzlichem enklitischem -wa)7 dient gleichzeitig als Gegenwarts- und kommunikativer Situationsbezug und markiert somit den Übergang zwischen den in historischem Präsens dargestellten Ereignissen zur Zeit des Vaters des Königs und den aktuellen, direkt an die Adressaten - die LÚ.MEŠDUGUD - gerichteten Anschuldigungen.8 Der Spruch „zikk=a=wa GIŠTUKUL apašš=a GIŠTUKUL“, der am Ende der ersten Partitur (C.I.) innerhalb der königlichen Anrede eingebettet ist,9 wird ebenso durch die enklitische Partikel -wa(r) markiert. In beiden Fällen dient -wa(r) als Markierung der sog. „discorso imperativo“10.

- Amtsträger und Dienstpflichtige

Im Text sind 3 verschiedene Bezeichnungen für Beamte bzw. Amtsträger erwähnt:

  • Die LÚ.MEŠDUGUD, an die der königliche Erlass spezifisch gerichtet ist und deren Hauptfunktion in der Kontrolle über das gerechte Verfahren verschiedener Abgabe- bzw. Dienstleistungen zu bestehen scheint.

  • Die LÚ.MEŠNAŠI ṢIDITI, deren Funktion nicht das „Tragen“ der Güter, sondern ihr pflichtgemäßes Liefern ist (s. CAD s.v. našû A, 2a4', und ebd. s.v. nāši für die ähnliche Bildung nāši bilti).

    In § 3' fassen wir dementsprechend die Beziehung zwischen den zwei Objekten von VP daškizzi (nämlich ŠŪT mŠarka PN1-5 und die darauffolgende Liste von Gütern) als partitivische Apposition, und beziehen das enklitische -ŠU in Vs. 7'-9' (… ŠŪT mŠarka PN1-5 LÚ.MEŠNAŠI ṢIDITI=ŠU) auf Šarka: „von denen, (die unter der Aufsicht) von Šarka (sind) - nämlich PN1, PN2, PN3, PN4, PN5, seine (scil. von Šarka) Verpflegungslieferanten, nimmt (Taš) als Reisezuteilung jeweils ...“.

  • Die Erwähnung der LÚ.MEŠ GIŠTUKUL sowohl in der ersten (§ 2') als auch in der zweiten (§ 6') Königsanrede gilt als allgemeine Bezeichnung für dienstliche Amtsträger.11

    Im ersten Fall spiegelt sich die von den LÚ.MEŠDUGUD unmittelbar auf die LÚ.MEŠ GIŠTUKUL ausgeübte Unterdrückung indirekt auf die von diesen letzten abhängigen Arbeitskräfte wieder.12

    Im zweiten Fall gilt als Kontext der schon erwähnte, durch die Anwendung der Partikel -wa markierte Spruch „Du bist ein GIŠTUKUL und jener auch!“13, wobei dadurch auch die LÚ.MEŠDUGUD in die Kategorie der LÚ.MEŠ GIŠTUKUL miteinbezogen werden, und als hierarchischer Referenzpunkt einzig die königliche Macht bleibt.

1

S. z.B. Gilan A. 2009a, S. 132f.; ␣␣Goedegebuure P. 2003a, S. 207 u. 218; Hoffner H.A. 2007a, S.293f.; s. noch CHD s.v. šak(k)- 1., *mi(ya)ḫu(wa)nt- 2.b.; HED s.v. natta.

2

So auch Klinger J. 2001d („wenn ihr (es) nicht wahrt“).

3

Wir bevorzugen für ŠU.GI-eš-ša die schon in Neu E. 1982d, S. 210, vorgeschlagene Lesung *miyaḫuwantessa(r); so auch schon Archi: „l'âge de la vieillesse“.

4

Zum literarisch-juristischen Motiv der Aufbewahrung des Wortes des Königs (bzw. des Vaters des Königs) s. schon Marazzi M. 1997b und Marazzi M. 2002d; zuletzt Dardano P. 2011b und Dardano 2012a.

5

S. schon Neu E. 1984c für die Lesung me-ma-i anstelle von pár-ku-i

6

Wobei dem VP hier eine starke juristisch-sapientiale Bedeutung zukommt: „als rechtliche Grundlage gelten“

7

Zu kaša(tta) s. zuletzt Rieken E. 2009c.

8

Zur Anwendung des sog. historischen Präsens im Hethitischen sei hier auf Cotticelli-Kurras P. 2001a und Holland G.B. - Zorman M. 2007a, S. 82f. verwiesen.

9

Zur Bezugsfunktion von apaš in diesem Zusammenhang S. Goedegebuure P. 2003a, S. 189.

10

Nach der Typologie in Pecora L. 1984a.

11

Darüber Beal R.H. 1988b, S. 280f.

12

So interpretieren wir die Bedeutung von Adv. kattan; s. auch Goedegebuure P. 2003a, S. 267.

13

Das Fehlen von LÚ spielt hier semantisch keine Rolle (s. schon Beal R.H. 1988b, S. 281, mit Anm. 61).


Editio ultima: 2013-04-15






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