Königserlässe Massimiliano Marazzi 1. Textgenre 1.1. Forschungsgeschichte Eine eindeutige Abgrenzung des Königserlasses als Textgenre politisch-historischer und juristischer Bedeutung geht zurück auf von E. von Schuler (Schuler E. von 1959b; Schuler E. von 1964a, S. 49ff.; Schuler E. von 1976-1980: zum Verhältnis zwischen Instruktionen und Königserlässen). Eine weitere politische Charakterisierung dieser Textgattung innerhalb der Denksysteme des Alten Vorderen Orients wurde vom Historiker M. Liverani (Liverani M. 1977a) durchgeführt. Zur Definition formaler und inhaltlicher Eigenschaften sowie zur Beziehung zu anderen literarischen althethitischen Textgattungen lehrhaften und chronikartigen Charakters s. zuletzt Marazzi M. 2007a (mit ausführlicher früherer Bibliographie). Auf dieser Studie basieren folgende kurze Einleitung und die damit verbundene Corpusabgrenzung. 1.2. Formale und thematische Charakterisierung Der K.E. besteht aus verschiedenen nebeneinandergestellten Elementen, die mehreren juristischen und sozio-politischen Zielen und Funktionen gleichzeitig entsprechen. Thematisch kann man drei Grundmuster identifizieren: Die königliche Vorschrift (heth. „das königliche Wort“), die gleichzeitig auf zwei Ebenen verläuft: die eine hauptsächlich politischen, die andere technisch-normativen Charakters. Der Bezug auf die Vergangenheit, im Sinne einer historischen Rekonstruktion, ausgehend von einem signifikativen Moment der Vergangenheit bis zur durch den königlichen Akt des Erlassens aktualisierten Gegenwart, wobei dieser Akt als unabdingbare Konsequenz des historischen Prozesses erscheint. Die Einfügung von paradigmatischen Partituren (Erzählung von kurzen Episoden oder einfach Anspielungen auf vergangene Ereignisse), die die Form des mahnenden Beispiels, der Barmherzigkeitslehre oder des Gebotes annehmen können und durch ihren Bezug auf das kulturelle Gedächtnis als Gewohnheitsfundament der königlichen Vorschrift dienen und ihr den Wert der Rechtsnorm verleihen. Unter dem Gesichtspunkt seiner Struktur besteht der K.E. grundsätzlich aus zwei Teilen: Der erste, die als Einleitung des Erlasses dient, historischen Charakters, der zweite, der den Hauptteil bildet, ␣␣␣technisch-normativen Charakters. Die historische Einleitung dient als Prämisse und gleichzeitig als Begründung der königlichen Vorschriften, und der Ablauf der erzählten Ereignisse ist nach dem rhetorischem Schema „Gutes>Schlechtes>Gutes“ gebaut, dem die zeitliche Abfolge „ferne Vergangenheit>darauffolgende destabilisierende Ereignisse> gegenwärtiges Eintreten der königlichen wieder ausgleichenden Rechtsprechung“ entspricht.1 Innerhalb der historischen Erzählung können „eschatologische Projektionen“ eintreten, d.h. Darstellungen tragischer Konsequenzen, die ohne das gegenwärtige königliche Eingreifen hätten stattfinden können. Es gehört in den Rahmen dieses wichtigen Teils des Erlasses, dass sich jene apologetischen Aspekte manifestieren, die die zeitgenössische historiographische Produktion charakterisieren.2 Der Erlass scheint dementsprechend auf einem historischen Aufbau eingerichtet zu sein, dessen Ablauf Vergangenheit und Gegenwart durch eine ideale Teleologie verbindet. Andere Bedeutung haben die kurzen historischen Episoden oder die paradigmatischen Beispiele, die hauptsächlich innerhalb des zweiten Teils des königlichen Edikts auftreten und sich mit den dispositiven Vorschriften abwechseln. Das historische Gedächtnis, das durch die Erinnerung an Fakten oder Episoden, die als Paradigma des Guten/Bösen dienen, angesprochen wird, verliert hier an chronologischer Tiefe und übernimmt die Funktion des mahnenden Beispiels, das als fundierende Begründung der königlichen Norm gilt. Dementsprechend sind solche Episoden nicht durch die Sequenz der Ereignisse, sondern durch die situationale Ähnlichkeit mit der Gegenwart verbunden. Ihrer Darstellung schließt sich (gewöhnlich durch die einleitende Formel kinun=a) die gegenwärtige königliche Verfügung an, die dadurch ihr Fundament erzielt. Diese „mahnenden Intermezzi“ stellen somit eine Art Weisheitlehre dar, die ihre literarische Entsprechung in den zeitgenössischen Kompositionen der sog. Palastchronik (CTH 8), der „Pimpira-Instruktionen“ (CTH 24) und der „Anweisungen an den jungen Prinz“ (CTH 438) finden. Die königliche Verfügung, die sich im zweiten Teil des Ediktes entfaltet, nimmt somit komplexe und vielfältige Charakterzüge an: Politisch: Verbannung/Verurteilung Mitglieder der königlichen Familie oder des königlichen Hofes, Gnadenakte, Proklamation eines neuen Thronfolgers usw. Verwaltungs-technisch: Instruktionen bez. spezifischer Produktionsbereiche oder Beamtenkategorien. Ethisch: Darstellung/Lehre bez. des „richtigen/gerechten“ Verhaltens der königlichen Macht gegenüber. Solche verschiedenartigen thematischen Ebenen erleben jedoch im Textablauf keine Systematisierung oder hierarchische Gliederung. Diese charakterisierende Verschmelzung von Norm, ethischer Lehre und politischer Apologie macht aus dem Königserlass nicht nur die Quelle der Rechtsfindung (wie Schuler E. von 1959b dargestellt hat) sondern auch das allgemein regelnde Instrument der hethitischen Gesellschaft in ihrer älterer Entwicklung. 2. Chronologische und sprachliche Bestimmung Bestimmte chronologische und sprachliche Eigenschaften charakterisieren die Texte der Königserlässe. 2.1. Chronologische Zeitspanne Alle bis heute vorhandene Erlässe gehören historisch bis auf einen zu einer bestimmten Epoche, nämlich die der althethitischen Zeit. Das einzige Edikt (CTH 258.1), das sich in die Zeit Tuthalijas I./II. datieren lässt, zeigt einen besonders technisch-normativen Charakter, der ihn sehr nahe zu den zeitgenössischen Instruktiontexten stellt.3 In der darauffolgenden Zeitepoche taucht der Königserlass in der hier beschriebenen Form nicht mehr auf und lässt den Platz spezifischen und der sozio-politischen Entwicklung des Hethiterreiches geeigneteren Textgattungen.4 2.2. Sprachliche Eigenschaften In erster Linie ist zu bemerken, dass zwei königliche Edikte in bilingualer (akkadisch-hethitisch) Redaktion bezeugt sind. Es handelt sich um das sog. Testament Hattušilis I. (CTH 6) und um das Telipinu-Edikt (CTH 19). Das Vorhandensein bilingualer (akkadisch-hethitisch, oder nur akkadisch verfasster) Texte „inneren“ Charakters (d.h. eng mit den sozio-politischen Ereignissen und Verwaltungsproblemen des Landes verbunden) begegnet uns nur in althethitischer Zeit. Aus soziolinguistischer Sicht ist es wohl als Beweis zu bewerten, dass sich noch keine hethitophone Kanzlei (und vielleicht auch noch keine typisch hethitische Schrift) in dieser früheren Phase des Hethiterreichs, in der noch starke zentrifugale Tendenzen wirksam waren, herausgebildet hatte.5 Die bilinguale (und vielleicht ursprünglich erst akkadische) Redaktion nimmt somit die Bedeutung einer politisch gesehen „starken“ Wahl an, die wohl auf eine sozio-linguistisch und normativ noch zersplitterte Situation Rücksicht nimmt.6 In dieser Hinsicht gewinnen einige sprachliche Besonderheiten an Relevanz, die in verschiedenen nur auf hethitisch (und durch jh. Kopien) bis heute belegten Texten festzustellen sind und auf eine mögliche ursprüngliche akkadische Fassung hinzudeuten scheinen.7 3. Abgrenzung des Corpus
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