Citatio: E. Rieken & D. Schwemer, hethiter.net/: HFR Einleitung (2022-05-12)
Im 17. Jh. v. Chr. etablierte sich in Zentralanatolien mit dem Hethiterreich ein Territorialstaat, der die Geschicke Vorderasiens im 2. Jt. v. Chr. wesentlich mitbestimmen sollte. Geschichte und Kultur der Hethiter sind außergewöhnlich dicht dokumentiert, nicht zuletzt durch die umfangreichen Textfunde in den Staatsarchiven der Stadt Ḫattuša (Boğazköy), die den hethitischen Königen mit wenigen kurzen Unterbrechungen als Residenzstadt diente. Die hethitische Staatsverwaltung übernahm die mesopotamische Keilschrift samt ihrem typischen Schreibmedium, der Tontafel, und adaptierte sie bereits im Zuge des 16. Jh. v. Chr. für die Verschriftlichung des Hethitischen.
Neben hethitischen Keilschrifttexten finden sich in den hethitischen Tontafelsammlungen in geringerem Umfang auch Keilschrifttexte in anderen altorientalischen Sprachen. Das Luwische und Palaische gehören wie das Hethitische zur Gruppe der anatolischen Sprachen, dem am frühesten bezeugten Zweig des Indoeuropäischen. Das Hattische ist eine nur durch hethitische Schreiber überlieferte Sprache jener Kultur, die Zentralanatolien in vorhethitischer Zeit dominierte; es wurde von den Hethitern als Sakralsprache im Rahmen der Festritualtexte tradiert. Die Sprachen Mesopotamiens, Akkadisch und Sumerisch, wurden v.a. in den Bereichen der Schreiberausbildung und der Diplomatie genutzt, wohingegen das Hurritische in hethitischen Archiven ganz überwiegend im Kontext der Überlieferung südanatolisch-nordsyrischer religiöser Traditionen bezeugt ist, die seit dem 15. Jh. v. Chr. eine wichtige Rolle am hethitischen Königshof spielten.
Der Tempelkult – die tägliche Versorgung der Gottheiten ebenso wie die kalendarisch festgelegten Kultfeste – ist in allen altorientalischen Kulturen ein zentrales Element des religiösen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens. So erlaubt eine Erschließung der Vollzüge, Strukturen und Transformationen des Kultes nicht nur entscheidende Einblicke in die Konzeption des Göttlichen und das Verständnis von Sakralität, den Aufbau der Götterwelt, das Verhältnis zwischen Mythologie und Ritualistik, die Sakralsprachen, die Sakralgeographie sowie die Kulttopographie, sondern sie beleuchtet zugleich wesentliche Aspekte der sozialen, politischen und ökonomischen Kultur. Im Kult werden Herrschaftsverhältnisse artikuliert und legitimiert, die Partizipation an den Ritualen dient der sozialen Kohäsion und der Definition gemeinsamer Identitäten nicht nur unter den sozialen Eliten antiker Gesellschaften. Die Ereignisse des Kultes strukturieren den Ablauf des Jahres. Der Kult selbst suggeriert durch seine zyklische Struktur Konstanz und die Stabilität von Tradition; in diachroner Perspektive lässt sich im Kultwesen das Spannungsverhältnis zwischen Traditionsbindung, Wandel, Revision und Reform paradigmatisch studieren. Im offiziellen Kult eines heterogenen Territorialstaates koexistieren und konkurrieren lokale Eigenheiten, regionale Traditionen und zentrale Regulierungsansprüche. Das Studium der Organisation, Realisierung und Pflege des Kultes gibt für ein Verständnis des hethitischen Staates wesentliche Einblicke in Verwaltungs und Produktionsstrukturen sowie in die Überlieferungstechniken der für die Durchführung des Kultes zuständigen Experten.
Für nur wenige Regionen und Epochen der Alten Welt erlaubt die Quellenlage umfassende Studien zum Kultwesen, bei denen einerseits eine Vielzahl von kultischen Institutionen und regionalen Traditionen innerhalb eines größeren politischen Gebildes berücksichtigt werden können und andererseits zugleich anhand der Überlieferung die historische Entwicklung des Kultes rekonstruierbar ist. Die hethitische Überlieferung stellt in dieser Hinsicht einen besonderen Glücksfall dar, da aus der relativ überschaubaren historischen Epoche des Hethiterreiches (17.–13. Jh. v. Chr.) eine Vielzahl von Textquellen zur Verfügung steht, die das hethitische Kultwesen mit seinen zahlreichen unterschiedlichen Traditionen und Milieus1 unmittelbar beleuchten. Unter den für die Rekonstruktion des hethitischen Kultes einschlägigen Quellen nehmen die sogenannten ‚Festrituale‘, Vorschriften für die Durchführung des Kultes an den Heiligtümern des Landes Ḫatti, aufgrund ihrer großen Zahl, ihrer diachronen Streuung und ihres unmittelbaren Bezugs auf die Kultpraxis und -administration eine hervorragende Stellung ein. Die möglichst umfassende editorische Erschließung dieser umfangreichen Textgruppe bildet die grundlegende Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis des hethitischen Kultwesens, das seinerseits aufgrund seiner Vielschichtigkeit und, nicht zuletzt, wegen der günstigen Quellenlage eine einzigartige Möglichkeit bietet, Struktur, Funktion und Dynamik eines Kultwesens in alten Kulturen beispielhaft darzustellen.
Die ‚Festrituale‘ sind mit nahezu 10.000 Fragmenten die umfänglichste Textgruppe unter den in den Tontafelsammlungen Ḫattušas gefundenen Keilschrifttexten. Festritualtexte sind knapp formulierte fachsprachliche, oft umfangreiche Vorschriften für Experten zur Durchführung des Kultes außerhalb der täglichen Versorgung der Gottheiten zu bestimmten, meist jahreszeitlich festgelegten Anlässen, die logographisch als EZEN₄ „Fest“ bezeichnet werden.2 Textfunde in hethitischen Provinzstädten zeigen, dass die staatliche Verwaltung des Kultwesens und die mit ihr assoziierte, überaus reiche Textproduktion nicht auf die Hauptstadt Ḫattuša beschränkt waren; so wurden Festritualtexte auch in Ortaköy, Kuşaklı, Oymaağaç, Kayalıpınar, Yassıhüyük und Meskene gefunden.
Die wichtige Rolle des Kultwesens wird jedem, der die Ruinen einer hethitischen Stadt besucht, sofort deutlich. Monumentale Tempel prägen das Stadtbild; Landschaftsmarken außerhalb des Stadtgebiets dienen als sakrale Stätten. In Ḫattuša – einer Rezitation des Monatsfestes zufolge die „Stadt der Götter“ – sind im Stadtgebiet über dreißig Tempel archäologisch nachgewiesen. Die Sorge für den Kult der Götter gehört zu den wesentlichen Aufgaben des Königs und der vom König eingesetzten lokalen Führungseliten. Dem König kommt seit althethitischer Zeit bei der Durchführung der Festrituale als ranghöchstem Kultdiener eine zentrale Rolle zu.
Die Hethiter bezeichnen die ideale Durchführung des Kultes mit dem Wort šakuwaššar(ra)- „vollständig“: Alle Feste sollen unter Berücksichtigung aller vorgeschriebenen Opfergaben termingerecht durchgeführt werden. Die vollständige Durchführung des Kultes gilt als Voraussetzung für das Wohlwollen der Götter gegenüber König und Land, wie nicht zuletzt die wiederholte Verpflichtung auf dieses Ideal in der Dienstvorschrift für die Tempelbediensteten deutlich macht. Zugleich belegen Passagen v.a. in historiographischen Texten und königlichen Gebeten, dass die realen Verhältnisse, geprägt von militärischen und politischen Sachzwängen, dem Ideal der Kultobservanz nicht immer entsprechen und kultische Pflichten vernachlässigt werden (hethitisch šakuwantariya-).
Der König als höchster Offiziant des Kultes und Garant für das Wohlergehen des Staates ist dem šakuwaššar(ra)-Ideal in besonderer Weise verpflichtet. Bei der Erfüllung seiner Pflicht unterstützt ihn der weitgehend zentralisierte Verwaltungsapparat des Reiches: Schreiber recherchieren, wie und wann die Feste zu feiern sind; sie genehmigen und dokumentieren die jeweiligen Versionen der Feste; sie organisieren und überwachen ihre Durchführung.3
Der Textausstoß der Kultverwaltung ist beträchtlich. Festritualtexte werden in verschiedenen Formaten angefertigt: ‚Übersichtstafeln‘ geben einen konzisen Überblick über das Programm vieltägiger Festrituale. ‚Tagestafeln‘ beschreiben die an einzelnen Tagen oder über mehrere Tage an einem bestimmten Ort durchzuführenden Riten bzw. Teilfeste. Offenbar nur aus besonderem Anlass werden Übersichtstafeln über alle vom König im Jahreskreis zu begehenden Feste angefertigt.4
Neben den Festritualtexten stehen weitere Textgruppen, die unmittelbar der Kultverwaltung dienen: Listen mit Rationen, die von speziellen Berufsgruppen zu liefern sind; Tafeln mit den während des Festes zu rezitierenden Texten; königliche Erlasse zur Regulierung bestimmter Kulte; Protokolle über die Inspektion lokaler Kulte, an denen der König nicht teilnahm, durch königliche Verwaltungsbeamte (die ‚Kultinventare‘); Protokolle über Orakelanfragen in Hinsicht auf die Durchführung bestimmter Feste. Insbesondere Erlasse und Kultinventare können Passagen enthalten, die wie die Festritualtexte Vorschriften für die Durchführung bestimmter Feste geben.
Oft beziehen sich die auf Tontafeln geschriebenen Festritualtexte auf wahrscheinlich mit Wachs eingelegte Schreibtafeln aus Holz. Sie spielen in der Kultverwaltung eine wichtige Rolle; erhalten hat sich leider keine einzige, so dass eine der für die Rekonstruktion des hethitischen Kultwesens wichtigen Quellengruppen leider auf immer verloren ist.5
Der hethitische Kult, das Gesamt der Riten und Feste, die der Verehrung und Pflege der Götter durch die Menschen dienen, ist per se traditionell. Nicht zufällig ist einer der hethitischen Ausdrücke für „Ritus“ und „Kult“, das Wort šaklai-, das eigentlich das mit Autorität versehene Herkömmliche bezeichnet: Brauch, Sitte, Regel, kurz: die Tradition. Der Rückbezug auf alte Tafeln und die Wertschätzung schriftlicher Überlieferung ist daher gerade im Bereich des Kultwesens besonders ausgeprägt; unternehmen Könige die Neuorganisation eines lokalen Kultes, weisen sie auf die Konsultation alter Tafeln hin und stellen ihre Maßnahmen als Restauration dar. Die systematische Archivierung und Instandhaltung von Festritualtexten tragen dazu bei, dass diese Gattung einen so großen Teil des erhaltenen hethitischen Textcorpus bildet.
Die Überlieferung der Festritualtexte beschränkt sich jedoch nicht auf die regelmäßige handschriftliche Erneuerung der immer gleichen Texte. Ablauf und Gestaltung der Festrituale werden immer wieder verändert. Man muss auf Versäumnisse reagieren, Ritualvorschriften neuen Situationen anpassen oder von Königen gestiftete zusätzliche Opfer einarbeiten. Für Veränderungen am Ritualablauf wird in der Regel die Genehmigung der Gottheit mittels Orakelanfragen eingeholt. Diese göttliche Bestätigung wird nicht nur in Protokollen der Orakelanfragen niedergelegt, sondern auch in den Festritualniederschriften vermerkt. Tatsächlich werden Änderungen im Ritualablauf durch eine Neufassung des Festritualtextes dokumentiert. Die Festrituale befinden sich in einem ständigen Veränderungsprozess, dessen Autorisierung und Dokumentation zu einer Vermehrung der Handschriften und zugleich zur Entstehung eines komplexen Überlieferungsbildes führen.
Neben der Dokumentation von Tradition und Wandel haben die Handschriften von Festritualtexten wohl auch die konkrete Funktion der Handlungsanweisung, die ihre offenbar präskriptive Formulierung von vornherein nahelegt. Die Festritualtexte selbst verweisen darauf, dass während der Durchführung des Rituals Schreiber anhand von Ton- oder Holztafeln Anweisungen erteilen, wie Opfergaben auf die jeweiligen Gottheiten zu verteilen seien.6 Dass Kopien der für bestimmte Kultorte relevanten Festritualtexte sowohl in den königlichen Archiven von Ḫattuša als auch vor Ort vorgehalten werden, ist ein weiteres Indiz für die Verwendung der Festritualtexte als Orientierungshilfe bei der Durchführung des Kultes.
Die Festritualtexte dokumentieren einen frühen Versuch, durch systematisches Qualitätsmanagement von seiten der Staatsverwaltung landesweit die Einhaltung bestimmter Standards sicherzustellen. Die Einhaltung dieser Standards, die bei den Hethitern durch göttliche Autorität legitimiert und vorgeschrieben sind, gewährleistet die Gunst der Götter und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Wohlfahrt des hethitischen Königtums und Staates. Die hervorragende Bedeutung, die der Organisation des Kultwesens von der hethitischen Staatsverwaltung zugemessen wird, ist jedoch nicht allein ideologisch begründet. Die Durchführung des Kultes und seine Betreuung durch die königliche Verwaltung gewährleisten eine kontinuierliche landesweite Präsenz der königlichen Person und den regelmäßigen Besuch lokaler Delegationen in der Hauptstadt. Sie vermitteln den hethitischen Eliten und in gewissem Maße wohl auch der weiteren Bevölkerung eine gemeinsame Identität und eine Haltung der Anerkennung königlicher Herrschaft.
Der große Anteil der Festritualtexte an der schriftlichen hethitischen Überlieferung wurde früh erkannt, und bereits die ersten Überblickswerke zur hethitischen Kultur geben der Beschreibung des Kultwesens Raum.7 Zur weiteren Erschließung des Genres trug v.a. Güterbock in einer Reihe von Aufsätzen bei,8 deren Ausführungen zu den Übersichtstafeln Houwink ten Cate in mehreren grundlegenden Beiträgen weiterführte.9 Seit den 1970er Jahren sind verschiedene einzelne Festrituale oder Gruppen von mit bestimmten Kultorten assoziierten Festritualtexten häufig auch in monographischer Form ediert worden;10 Einzeltexte wurden in Form von Artikeln diskutiert oder auch bearbeitet.11 Festrituale, die in größerem Umfang nichthethitische (hattische, palaische, luwische oder hurritische) Passagen enthalten, fanden – zum Teil nur in Auswahl oder Auszügen – Aufnahme in die jeweiligen Spezialcorpora.12 Daneben finden sich in Studien zu bestimmten Aspekten des Kultes (v.a. Tempel, Musik, Tanz) Bearbeitungen einzelner Passagen.13 Einen Überblick über die wichtigsten Festrituale mit Inhaltsangaben, aber ohne Textbearbeitungen hat zuletzt Haas gegeben (Haas V. 1994a: 674–875). Verschiedene Teilkomplexe der Festritualtexte wurden in Form von Qualifikationsarbeiten und kleineren Forschungsprojekten aufgearbeitet oder sind in Bearbeitung.14 In den jüngeren deutschen Verbundforschungsprojekten aus dem Bereich Altertumswissenschaften, Religionsgeschichte und Ritualkunde fanden das Corpus der hethitischen Festrituale und der hethitische Kult keine oder nur marginale Berücksichtigung. Obwohl die Festritualtexte seit den Anfängen der Hethitologie als umfangreichste hethitische Textgruppe erkannt worden waren und die sukzessive Publikation der Textfunde aus Ḫattuša in Autographien v.a. auch durch das Projekt „Hethitische Forschungen“ der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz,15 die umfassende Edition einzelner Festritualtextkomplexe durch einzelne Wissenschaftler erlaubte,16 befindet sich die editorische Aufarbeitung dieses für die hethitische Kulturgeschichte bedeutenden Textgenres noch in einem Anfangsstadium: So wurde etwa eine Edition des bedeutendsten Festritualkomplexes der Großreichszeit, des AN.DAḪ.ŠUM-Festes im Frühjahr, nie unternommen. Die Zahl der nicht zugeordneten Fragmente, die im Catalogue des textes hittites (CTH) derzeit der Sammelnummer CTH 670 („Festritualfragmente“) zugeordnet sind, übersteigt 3500. Die Ratio zwischen der Zahl der in Ḫattuša gefundenen Festritualfragmente und den erfolgten Fragmentzusammenschlüssen ist signifikant niedriger als für andere hethitische Textgattungen. Zu fast allen vorgelegten Editionen haben sich zwischenzeitlich bereits Nachträge und Zusätze ergeben, die mittels der Konkordanz der hethitischen Keilschrifttafeln der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zwar systematisch erschlossen werden, deren editorische Aufarbeitung bisher jedoch nur in Einzelfällen erfolgt ist.
Für das Studium übergreifender kulturhistorischer, sprachgeschichtlicher und paläographischer Fragestellungen kann das umfangreichste hethitische Textgenre derzeit nur eingeschränkt herangezogen werden. Insgesamt gilt, dass jede Bearbeitung eines einzelnen Textbereichs aus den Festritualtexten nur vorläufigen Charakter haben kann, solange eine umfassende und systematische Aufarbeitung des Gesamttextbestands (einschließlich der bisher nur grob zugeordneten Fragmente) nicht erfolgt ist.
Der trotz vieler Einzelbeiträge insgesamt unbefriedigende Forschungsstand ist sachlich den außerordentlichen Herausforderungen geschuldet, denen sich eine umfassende kritische Edition der hethitischen Festritualtexte stellen muss:
Das Vorhaben verfolgt vier Gesamtziele, die sich alle auf die editorische Erschließung und Gesamtinterpretation der Festritualtexte beziehen.
Das Vorhaben unternimmt die Aufnahme von Transliterationen aller Manuskripte von Festritualtexten in ein digitales, umfassend mit Metadaten annotiertes Basiscorpus, das komplexe Recherchen in Hinblick auf die Manuskript- und Textrekonstruktion erlaubt und zugleich die noch nicht einem Einzeltext oder Textkomplex zuweisbaren Fragmente topisch erschließt. Dieses Basiscorpus wurde Ende 2021 online publiziert (Basiscorpus) und wird seither kontinuierlich korrigiert und um Neufunde erweitert.
HFR erstellt kritische, nach Möglichkeit die Überlieferungsgeschichte berücksichtigende Editionen einer Auswahl von Festritualtexten im Rahmen der digitalen Infrastruktur des HPM; prinzipiell ausgenommen von den Editionen sind isolierte Einzelfragmente, die nur im Rahmen des Basiscorpus erschlossen werden. Einzelne Textkomplexe werden kommentiert als Druckwerk vorgelegt.
Folgende Kriterien wurden für die Auswahl der in Form von kritischen Editionen vorzulegenden Texte angelegt: (1) Umfang und Erhaltungszustand der verfügbaren Manuskripte; (2) religionshistorische und sprachgeschichtliche Signifikanz; (3) Dringlichkeit einer Erst- oder Neuedition; (4) Nichtberücksichtigung im Rahmen anderer Forschungsvorhaben zu einzelnen hethitischen Festritualen.
Das Vorhaben dient einer möglichst umfassenden Rekonstruktion der Manuskripte von Festritualtexten sowohl mit den herkömmlichen philologischen Mitteln der Textedition als auch mit Hilfe der virtuellen Manuskriptrekonstruktion. Für letztere werden die Originaltafeln und -fragmente mit Hilfe hochauflösender 3D-Scans digital erfasst und mittels spezieller Software schriftmetrologisch analysiert. Die Datenanalyse soll die Bildung von Fragmentgruppen mit hoher Zusammenschlusswahrscheinlichkeit ermöglichen. In diesem Zusammenhang sind auch neue Erkenntnisse zur hethitischen Keilschriftpaläographie zu erwarten.
Das Vorhaben dient über seinen texteditorischen Kern hinaus der Erschließung der historischen Entwicklung des hethitischen Kultwesens als einer staatlich organisierten religiösen Praxis mit hoher politischer und ökonomischer Signifikanz. Die im Rahmen des projektinternen Doktorandenprogramms erstellten Dissertationen beleuchten Einzelaspekte des Textkomplexes. Übergreifende Studien werden zur Paläographie, sprachlichen Form und zur religionshistorischen Gesamtinterpretation vorgelegt.
Aufgrund neuer Texteditionen und innovativer Hypothesen zur Schriftadaption ist in jüngster Zeit die in den 70er und 80er Jahren intensiv geführte Diskussion um Methodik und Ergebnisse der paläographischen Textdatierung wieder neu entflammt. Durch die geplante Studie darf man in dieser Frage einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt erwarten, weil einerseits mit den mittel- und junghethitischen Festritualtexten ein bisher in der Diskussion weitgehend ausgeklammertes Corpus in die Betrachtung einbezogen wird und andererseits ein neues technisches Instrumentarium zur Anwendung kommt.
Aufbauend auf den schriftmetrologischen Analysen und der Erfassung der Festritualtexte im annotierten Basiscorpus, die eine Quantifizierung der Anwendung ‚orthographischer‘ Regeln ermöglicht, wird eine paläographische Untersuchung zu einer repräsentativen Auswahl von Festritualtexten vorgenommen. Neben einer systematischen Dokumentation der Graphien und Zeichenformen in neuartiger Qualität (Fotos, 3D-Scans und 3D-Geometrien) in Hinsicht auf ein geschlossenes Großcorpus ist das Ziel der Studie zunächst die Definition signifikanter diachroner und synchroner Varianzen unter Einbeziehung neuer Parameter wie Griffelform, Griffelstellung, Trajektionswinkel, Keilgruppengeometrie etc. Auf dieser Basis kann die Aussagekraft der variablen Zeichenformen für die Datierung von Niederschriften, für eine etwaige funktionale Kategorisierung von Schrifttypen sowie für die Größe und Kontinuität von Schreiberteams und die Identifikation einzelner Schreiberhände fundiert untersucht werden.
Eine übergreifende linguistische Studie wird zu einem vertieften Verständnis der diachronen Entwicklung und archivalischen Gestaltung des Festritualcorpus und seiner identitätsstiftenden Inhalte beitragen ebenso wie zur Kenntnis der hethitischen Sprachentwicklung im Allgemeinen; dabei stellen die Ergebnisse der paläographischen Studie eine wichtige Voraussetzung für die Bearbeitung dieser Fragestellungen dar. Forschungsrelevante Themen sind hier z.B. die Beschreibung und typologische Einordnung fachsprachlicher Merkmale sowie die Formen der Textualität: Inwieweit verstehen sich die Schreiber als Autoren, Kopisten oder als Kompilatoren, die aus der diskursiven Tradition der ‚kulturellen Bibliothek‘ eine interpretierende Auswahl treffen? Wie spiegeln sich Zielsetzung und Intentionen der Schreiber sowie ihr Verhältnis zum produzierten Text in dessen sprachlicher Realisierung? Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Untersuchung der Form der Textualität und der Schreibertätigkeit wird die Verfolgung der stets wiederkehrenden Motive durch die gesamte Überlieferungsgeschichte sein. Dabei stehen neben der inhaltlichen Einordnung in die Makrostruktur des Textes vor allem die sprachlichen Techniken der Beschreibung solcher Sinneinheiten im Fokus: Fachsprachlichkeit, Explizitheit und Variabilität der sprachlichen Form; Anschluss an den Kontext; Möglichkeiten sprachlicher Innovation und Archaisierung.
Eine religions- und verwaltungsgeschichtliche Studie zu den Texten der hethitischen Festritualtradition wird Bedeutung und lebensweltlichen Kontext der hethitischen Festrituale auch einem weiteren Publikum erschließen. Ziel der Studie ist eine möglichst umfassende, auf der durch das Projekt geleisteten Erschließung der Quellen basierende Beschreibung von Umfang, Struktur, Organisationsweise sowie von religiösen, politischen und gesellschaftlichen Funktionen des vom Königshaus kontrollierten Kultes an hethitischen Heiligtümern im 13. Jh. v. Chr. Ein zentrales Anliegen der Studie wird sein, eine an den Texten der Kultpraxis tatsächlich nachweisbare diachron differenzierte Entwicklungsgeschichte des hethitischen Kultes zu zeichnen: Welche Traditionen werden im Kult des 13. Jh. aufgenommen, wie werden sie adaptiert und weiterentwickelt, wie wirken sich Maßnahmen individueller Könige und Königinnen auf die Gestaltung des Kultes aus? Lassen sich diese Entwicklungen mit den archäologischen Befunden in Ḫattuša oder an anderen hethitischen Fundplätzen verknüpfen? Unmittelbar mit einer diachronen Analyse der Festritualpraxis verbunden ist die Frage nach der Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Kult in der alten Hauptstadt Ḫattuša zu den lokalen Kulten des Landes Ḫatti, zumal auch in Zeiten, in denen Ḫattuša nicht als Königsresidenz diente.
Insgesamt dient das Forschungsvorhaben der Rekonstruktion und Edition der umfänglichsten und zugleich am wenigsten erschlossenen hethitischen Textgruppe, die vor allem aus den deutschen Ausgrabungen in Ḫattuša stammt. Die kritische Erschließung der Primärquellen ist von der Fragestellung geleitet, welche Bedeutung den Festritualtexten innerhalb der religiösen, bürokratischen, ökonomischen und politischen Praxis des hethitischen Staates v.a. im 13. Jh. v. Chr. zukommt und wie das Verhältnis zwischen den Festritualtexten im engeren Sinne und der hethitischen Festritualtradition im weiteren Sinne (Kultinventare, Edikte, Orakelprotokolle etc.) zu beschreiben ist. Zugleich möchte das Vorhaben Beiträge zur Ritualforschung, zur Religionsgeschichte der altorientalischen Kulturen und zur Keilschriftpaläographie leisten und die linguistische Erforschung von Textsorten alter Sprachstufen vorantreiben.